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Das Moderne ist das Individuelle

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Anmerkungen zur Musikkritik aus der Sicht des Komponisten
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Ob sie es will oder nicht: Ambitionierte Musikkritik ist nach dem Zweiten Weltkrieg von der gleichen Problematik geprägt wie das Komponieren. Dem ererbten feierlichen „Jargon der Eigentlichkeit“ durch Adornos Hilfe bald entwachsen, glaubte sie bald einen neuen, tragfähigen Grund unter den Füßen zu haben.

Ob sie es will oder nicht: Ambitionierte Musikkritik ist nach dem Zweiten Weltkrieg von der gleichen Problematik geprägt wie das Komponieren. Dem ererbten feierlichen „Jargon der Eigentlichkeit“ durch Adornos Hilfe bald entwachsen, glaubte sie bald einen neuen, tragfähigen Grund unter den Füßen zu haben.Es wurde fleißig entmythisiert, psychologisiert und im besten Fall sogar analysiert; jedenfalls war es kein Regelverstoß, auch die formalen Strategien der Komponisten zur Sprache zu bringen. Doch ähnlich wie sich die Komponisten nach der Hochblüte der seriellen Schule in den toten Formalismus einer neuen Orthodoxie verstricken, versperrten in der Kritik schnell Vorurteile den freien Blick auf neue musikalische Phänomene. In der Hand so manchen klugen Mannes verkümmerte das vielseitig-komplexe, niemals schulmeisternde Denken der
Adornoschule zu doktrinärer Bequemlichkeit, welche geschichtsphilosophisch begründetes Fortschrittsdenken über das sich frei bestimmende Individuelle stellte. Was der sich als zentraler Impuls verstehende Fortschrittsweg der seriellen Schule noch eine Zeit lang verschleiern konnte, trat nach dem Zerfall dieser Richtung offen zu Tage: Unsere Musikkultur kann nicht mehr als kohärente Einheit begriffen werden, sondern nur noch als Geflecht vieler Wege. Der Schock da- rüber, dass es so etwas wie allgemeine Kriterien fürs Komponieren wie auch für dessen Beurteilung nicht mehr geben kann, sitzt so tief, dass sein Verarbeitungsprozess bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Das bei so vielen sich festsetzende Missverständnis, eine solche Situation sei gleichbedeutend mit totaler Maßstabslosigkeit, führt allzu leicht zu Zynismus oder zu Resignation.

Die heilende Einsicht, dass die „gesetzgeberische“ Eigenschaft des Individuellen selber die tiefste Neuentde-ckung der Moderne ist, konnte allerdings erst in einer so radikal zugespitzten Gesamtsituation, wie wir sie heute erleben, möglich werden. Weder geschichtsphilosophische noch fundamentalistisch-naturwissenschaftliche Überlegungen können dem produktiven Künstler heute noch das Geringste helfen; er muss so lange in sich graben, bis er diejenige Gesetzmäßigkeit findet, die es seiner Individualität ermöglicht, sich auszudrücken und die unzähligen Impulse einer pluralistischen kulturellen Umwelt auf ihre Weise zu ordnen. Alles hängt davon ab, ob er einen solchen individuellen Weg für seine Kunst findet; dieser Weg ist dann auch beschreibbar und kritisierbar, auch wenn er durchaus nicht ableitbar ist von wie auch immer „allgemeinen“ Ideen. Für den Kritiker bedeutet eine solche Grundgegebenheit den Zwang, sich mit jedem ihm begegnenden Komponisten individuell auseinander zu setzen und der Versuchung zu widerstehen, aus relativer Erfahrung ein Recht zum Urteilen abzuleiten. Und ebenso wie ein verantwortungsvoller Kompositionslehrer heute in seinem Selbstverständnis den schwierigen und etwas schmerzhaften Sprung tun muss vom dogmatisierenden Vermittler eigener ästhetischer Positionen hin zu der Funktion eines „Wegweisers“, der eine Vielzahl verschiedener Wege kennt (samt einer Reihe von Schleichpfaden, die er nur wenigen zeigen wird), so müsste der Kritiker lernen, Stücke (und auch Interpretationen) nicht danach zu beurteilen, ob sie irgend welchen aus Gewohnheit übernommenen Normen genügen, ob sie in der Machart neuartig scheinen oder besonderen Erfolg im Tagesgeschäft aufweisen, sondern nur danach, ob und inwieweit sie einen individuellen Ansatzpunkt und einen gangbaren und nachvollziehbaren Weg, eine neue Synthese von Mitteln aufweisen.

Der Kritiker sollte der intensivste und aufmerksamste Hörer des Komponisten sein! Ist ihm diese Rolle zu lästig, kann er nur in einen pauschalen und damit destruktiven Rundumschlag fliehen – oder in Kritiklosigkeit; beide Extreme kapitulieren vor unserer geis- tigen Situation, und fördern die dümmsten Tagesmoden und den Ausverkauf der Kultur, wie er in großem Stil stattfindet.

Diese Zeilen sollen einem Mann gewidmet sein, der zu den Wenigen gehört, den wir Komponisten als Verbündeten in der Welt des Journalismus empfinden: Einen Verbündeten im Kampf gegen die Marginalisierung ästhetischer Probleme in unserer Öffentlichkeit. Rohde hat Zeit seines Lebens heiße Eisen angefasst, er hat sich nie von Klischees und Moden bestimmen lassen, ist dem Doktrinären entkommen. Er hat nicht verlernt, sich zu engagieren – was ja immer auch bedeutet, sich einem Risiko (dem Irrtum) auszusetzen. Niemals findet man bei ihm die Attitüde des „Über-den-Dingen-Schwebens“, welche so tut, als könne sie Kunst und Künstler durchschauen, ohne sie ernst zu nehmen.

Lieber Gerhard Rohde, ich bin dankbar, dass es Sie gibt. Ich habe noch einige Ihrer Kollegen erlebt, welche sich eine Woche vor einer Uraufführung die Partitur eines neuen Stückes geben ließen, und die Proben besuchten (so etwa Ruppel in München); ich weiß, dass Sie nicht leichtfertig mit dem umgehen, was uns so viele Mühen macht. Schon das ist viel, und es gäbe noch vieles andere an Ihnen zu rühmen – es wird von anderer Seite geschehen.
Bleiben Sie uns noch lange erhalten.

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