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Das Rationale, das Emotionale, das Unterbewusste

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Roland Spiegel im Gespräch mit dem Bassisten Barry Guy und der Violinistin Maya Homburger
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Ein Bass-Virtuose des Free Jazz und eine Barock-Violinistin: der Engländer Barry Guy und die Schweizerin Maya Homburger. In Christopher Hogwoods Academy of Ancient Music lernten sie sich vor 18 Jahren kennen – und realisieren seitdem viele musikalische Projekte zusammen. Zuletzt unter anderem die CD „Dakryon“ (Maya Recordings MCD 0501) und „Folio“ (ECM New Series 1931), letztere zusammen mit dem Münchener Kammerorchester, Dirigent Christoph Poppen und Geigerin Muriel Cantoreggi. „Dakryon“ erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik, „Folio“ in Frankreich den „Choc Jazzman of the month“. Zusätzlich verlieh das französische Magazin „Jazzman“ Barry Guy auch einen „Choc of The Year“ für die CD „Oort-Entropy“ mit seinem New Orchestra (Intakt CD 101). Eine große Erfolgsphase also für Barry Guy, einen Grenzgänger zwischen Barock, Neuer Musik und freiem Jazz. Die nmz sprach mit ihm und Maya Homburger.

nmz: Barry Guy, seit langem spielen Sie Barockmusik und Jazz beziehungsweise Neue Musik: Wie war es möglich, diese beiden Welten zu vereinen?

Barry Guy: Ich bin ein Opfer meiner eigenen Geschichte. Als ich Jazz und improvisierte Musik entdeckt hatte, entdeckte ich wenige Jahre später auch die Barockmusik. In jeder gab es viel für mich zu erforschen, und es war für mich nie ein Problem, einerseits alte Musik und andererseits Jazz anzuhören und zu spielen. Und eines gewann durch das andere. Ich habe zwar nicht Barock in den Jazz und Jazz in die Barockmusik hineingebracht, aber diese Musik-Genres haben doch ähnliche Züge in mancher Hinsicht. Vor allem als ich Monteverdis Marienvesper von 1610 hörte, eröffnete sich mir eine neue Perspektive über Musik im Raum. Solche Aspekte interessierten mich für meine Arbeit mit dem London Jazz Composers Orchestra – was die Idee der Klangwirkungen in einem großen Ensemble betrifft. Mit beiden Musikwelten beschäftigte ich mich jeweils einzeln, ich hatte ja auch unterschiedliche Bässe für den Jazz und den Barock. Es war von daher für mich nie ein Problem, mit beiden Musikstilen zu tun zu haben. Sie entwickelten sich in meiner Biographie jede für sich.

nmz: Sind Barockmusik und improvisierte Musik unterschiedliche Sprachen für Sie, wenn Sie spielen?

Barry Guy: Ja und nein. Sie sind natürlich unterschiedliche Sprachen, aber an-dererseits war für mich am Anfang Barockmusik immer genauso neu zu entdecken wie improvisierte Musik – denn man muss immer neue Schritte tun, um die Musik aufzuführen und Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Musikern zu finden. Das ist unglaublich wichtig. Die Spielweise, der Umgang mit dem Bogen, das ist natürlich unterschiedlich, aber es gibt eine verwandte Geisteshaltung. Interessant ist es für mich dort, wo diese Momente sich kreuzen. Das ist nicht Crossover. Es geht um die Punkte, an denen die Rhetorik die gleiche ist, was wir als Musiker für Erfahrungen machen. Wenn ich mit Maya Bibers Rosenkranz-Sonaten spiele, muss ich auf dem Bass eine Möglichkeit finden, die zur Biber-Interpretation von Maya passt. Ich muss den Bass auf eine Art spielen, dass er die Rhetorik, die Story ergänzt – und zwar so, dass es Herr Biber vermutlich geschätzt hätte. In der „Battaglia“ von Biber wird der Bassist dazu angehalten, Pergamentpapier zwischen die Saiten zu stecken und die Saiten mit dem Bogen zu schlagen, um einen Snare-Drum-Effekt zu erzielen, also den Klang einer Schlachtentrommel zu erzeugen. Wenn Leute nach einer meiner freien Improvisationen zu mir kommen und fragen: Warum stecken Sie Drumsticks zwischen Ihre Saiten?, dann sage ich: Das ist Teil einer alten Tradition.

Maya Homburger: Wenn Barry das Erdbeben in der Kreuzigungs-Sonate von Biber spielt, da entfaltet sich eine Energie, die absolut an Donner erinnert – und es ist die gleiche Energie, die auch bei ganz freier Improvisation entstehen würde. Und das wird Bibers Absichten durchaus gerecht.

nmz: Auf der Platte „Dakryon“ haben Sie Barockwerke von Biber und Dario Castello eigenen Kompositionen und Improvisationen gegenübergestellt. Aber auf „Folio“ ist es ein ganz anderes Herangehen: ein langes Werk, in dem alle Ausdrucksformen integriert sind.

Barry Guy: „Dakryon“ repräsentiert fast genau das, was wir in Konzertprogrammen machen. „Folio“ hingegen ist ein Stück von knapp einer Stunde, ursprünglich ein Auftragswerk. Als ich „Folio“ entwarf, musste ich nach einem Vehikel für die Form suchen – und nach Material, das mich dafür inspirieren konnte. Auf meinem Schreibtisch lag schon seit Jahren jenes Stück von Nikolai Evreinov, das Theater der Seele“ von 1912. Ein fast surreales Stück über rationale, emotionale und unterbewusste Vorgänge. Dieses Szenario habe ich sozusagen in abstrahierter Weise verwendet, kombiniert mit einigen Traum-Sequenzen, und so ergaben sich für das Stück gewissermaßen rotierende Zylinder, die diese Bereiche, das Rationale, das Emotionale und das Unterbewusste, repräsentieren. Mit Orchester-Teilen, improvisierten Kommentaren der Barock-Violine und des Kontrabasses sowie einer Anleihe bei der „Recercada Primera“ on Diego Ortiz von 1553 konnte ich dieses Drama von etwa einer Stunde schließlich strukturieren, dem Orchester, Maya und mir dabei Rollen zuweisen und unterschiedlichstes Material verwenden. Es war eine ziemlich komplexe und interessante Operation.

nmz: Maya Homburger, Sie können die Barock-Geigenstücke zum Teil frei auswählen während der Aufführung. Sie improvisieren also auch. Es gibt daneben einen Part für eine moderne Violine, gespielt von Muriel Cantoreggi, der fest notiert ist. Was ist denn sonst der wesentliche Unterschied der Behandlung der beiden Violinparts?

Maya Homburger: Rein technisch gesehen, geht die moderne Solo-Geige viel höher. Das Griffbrett hört bei der Barockgeige einfach einige Zentimeter weiter unten auf. Auch mit den Stahlsaiten kann man viel höher spielen, und es klingt noch immer gut. Wobei dieses Stück auch für die Barockgeige relativ hoch komponiert ist. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede, dann gibt es im Part der modernen Violine auch viel mehr Forte und Fortissimo, aber auch ganz feine Stellen. Es gibt also diesen langsamen Satz, der sehr hoch ist und sehr fein und zum Teil in Oktaven geschrieben. Das wäre dann wieder wahnsinnig schwierig auf den Darmsaiten, das könnte man fast nicht machen. Insofern hat Barry sehr genau die Möglichkeiten der Instrumente genutzt.

Und er hat auch die Orchesterstellen entsprechend komponiert. Die moderne Geige muss oft ein sehr volles Orchester noch überstrahlen. Mein Part hat viel mehr Pianostellen. In der Stimmung richte ich mich hier natürlich nach dem Orchester, mit dem Stimmton auf etwas über 440 Hertz; sonst halte ich mich an 415 Hertz. In der Intonation hat sich Muriel Cantoreggi auch an mich angepasst. Moderne Geiger neigen dazu, alle Leittöne sehr hoch anzusetzen. Darauf hat sie nicht bestanden.

nmz: Wir sprachen über Barockmusik, Neue Musik, Jazz. Barry Guy, passt auch das 19. Jahrhundert in Ihre Welt?

Barry Guy: Vermutlich nicht, das ist merkwürdig. Ich habe mit Hogwood und Norrington viel Beethoven gespielt. Beethoven ist großartig, ich mag die Kraft, die in seiner Musik steckt, und sie zu spielen, war eine tolle Erfahrung. Aber in dem, was danach kam, habe ich nie so recht eine Heimat gefunden. Beethoven ist für mich ein Komponist, der immer ,down to earth‘ war, der mit musikalischen Problemen rang und Lösungen suchte – statt sich, wie die Romantiker, in göttliche Sphären erheben zu wollen. Mit seiner Haltung kann ich mich gut identifizieren, mit der anderen nicht.

nmz: Als ich „Folio“ gehört habe, hatte ich aber den Eindruck, dass das sehr spirituelle Musik ist.

Maya Homburger: Für mich sicherlich, gar keine Frage. Auch „Inachis“, das Sologeigen-Stück, das Barry für mich geschrieben hat und in „Folio“ eine Rolle spielt, ist sehr spirituell. Und auch „Ceremony“, das zitiert wird in „Folio“, ist ein sehr spirituelles Stück. Es basiert ja auf dem Navajo chant.

nmz: Barry Guy, Sie schreiben also paradoxerweise Musik, die ,down to earth‘ sein will und trotzdem sehr spirituell ist?

Barry Guy: Wenn es so herauskommt, dann ist es gut. Ich fühle mich ganz am Boden der Tatsachen, aber wenn das Stück so wirkt, dann freut es mich. Dass Interpreten – und vielleicht auch das Publikum – viel herausziehen können, was können wir mehr verlangen?

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