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Das Unvollendete – hier ist’s vollendet

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Kissinger „Winterzauber“ eröffnet Mendelssohn-Bartholdy-Jahr mit Mendelssohn-Uraufführung
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Das Unvollendete in der Musik zieht sie alle magisch an: Forscher, Wissenschaftler, sogar gestandene Komponisten. Man denke nur an Friedrich Cerha, der für Alban Bergs Oper „Lulu“ den dritten Akt aus Bruchstücken, Particell-Notierungen, Analogiebildungen und eigenen Imaginationen „herstellte“ – dieses Wort wählte er selbst für seinen gerühmten Dienst am Kunstwerk. Ein weiteres signifikantes Beispiel für nachschöpferisches Dienen wäre Deryck Cookes Fertigstellung von Gustav Mahlers Zehnter Symphonie.

Trotzdem haben aber selbst diese anspruchsvollen Bearbeitungen immer auch sehr kritische Bewertungen erfahren müssen. Kein Mensch, kein Forscher vermag mit letzter Gewissheit zu sagen, wie das jeweilige Kunstwerk aus letzter Hand des Künstlers wirklich ausgesehen hätte. Alle Analogieverfahren bergen immer einen Rest Unsicherheit.

Was jetzt in Bad Kissingen zu erleben war, bewegt sich zwar nicht ganz auf den ästhetischen Höhen und Komplexitäten der genannten Nachschöpfungen von Cerha und Cooke, aber gern bescheinigt man dem Herrn Professor für Musikwissenschaft an der Duke University Durham, North Carolina, R. Larry Todd, dass er mit Felix Mendelssohn Bartholdys Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 in e-Moll der Musikwelt und fingerfertigen Pianisten ein schönes Stück für Ohren und Hände beschert hat. Allegro molto vivace, Andante und Allegro molto vivace lauten die Tempobezeichnungen der drei Sätze, wobei dem Musik- und Mendelssohn-Freund besonders der dritte Satz ziemlich bekannt vorkommt – was kein Wunder ist: Todd, ein ausgewiesener Kenner des Komponisten Mendelssohn, nahm kurzentschlossen das berühmte, ebenfalls in e-Moll stehende Violinkonzert op. 64 zur Hand, verwandelte den Solopart der Geige in einen ebensolchen für das Pianoforte – fertig war der klassische Dreisätzer, der zwar nicht ganz die Reife, kompositorische Dichte und Ausdruckskraft der beiden anderen Klavierkonzerte des Komponisten, dem in g-Moll op. 25 und in d-Moll op. 40, erreichen mag, der jedoch gerade in Verbindung mit dem Violinkonzert ein größeres Interesse beanspruchen darf. Thematische Identitäten und Anklänge finden sich nämlich auch in den beiden ersten Sätzen des dritten Klavierkonzerts zum Violinkonzert op. 64. Beide Werke entstanden zeitlich fast parallel. Zwischen den ersten Entwurf des Violinkonzerts 1838 und dessen Vollendung 1844 schob sich 1842 die Beschäftigung mit dem dritten Klavierkonzert, für das Mendelssohn ein Angebot aus London erhalten hatte. Das Werk wurde jedoch nicht vollendet, nur der Entwurf für die ersten beiden Sätze liegt vor. Der Komponist überführte aber etliche thematische Materialien, wie das zweite Thema des ersten Satzes, in das Violinkonzert; ein Verfahren, das speziell in früheren Zeiten durchaus üblich war. Es kann kein Sündenfall sein, eigene Ideen zum zweiten Mal zu verwenden, zumal wenn der Komponist sein unfertiges Werk für sich weggelegt hat. Mit dem Enthusiasmus späterer Musikforscher und deren Ehrgeiz, mit dem Namen des Komponisten sich selbst einen Namen zu machen, braucht ein Künstler, in diesem Fall Mendelssohn Bartholdy, nicht zu rechnen.

Einen Namen hat sich R. Larry Todd allerdings nicht erst jetzt mit dem dritten Klavierkonzert gemacht. Seine Mendelssohn-Biographie „A Life in Music“, die 2003 erschien (kürzlich auf Deutsch), gilt als Standard-Werk und wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Für die Rekonstruktion des dritten Klavierkonzerts benutzte er des Komponisten Autograph-Particell sowie eine von Amadeus Eduard Anton Henschke zwischen 1847 und 1853 angefertigte handschriftliche Kopie von Mendelssohns Entwurf, die nach dem Tod des Komponisten 1847 von dessen Witwe dem Mendelssohn-Schüler und -Freund Niels W. Gade übergeben wurde, mit der Bitte, das Werk zu vollenden. Gade unterließ jedoch die weitere Bearbeitung und schenkte das Manu-skript dem Kopenhagener Musikdirektor Wilhelm Rubner. Man erkennt an der verzweigten Geschichte, dass ein Musikforscher auch kriminalistische Instinkte entwickeln muss, um zum Ziel zu gelangen.

Dass R. Larry Todds Bemühungen dem Klavierrepertoire ein interessantes, für die künstlerische Entwicklung Mendelssohn Bartholdys aufschlussreiches Werk gewonnen haben, davon konnte man sich bei der Uraufführung in Bad Kissingen überzeugen. Das Konzert fand zum Abschluss des „Kissinger Winterzaubers“ statt, eines umfang- und abwechslungsreichen „Festivals zur 4. Jahreszeit“. Zugleich gedachte man dabei der Wiederkehr des zweihundertsten Geburtstages des Komponisten in diesem Jahr. Begleitet von der Staatskapelle Weimar unter der Leitung von George Pehlivanian, präsentierte sich der Pianist Matthias Kirschnereit als genuiner Mendelssohn-Interpret. Melodische Eleganz und federnde Virtuosität verbanden sich mit zarter Andante-Expressivität im Mittelsatz. Feinster Mendelssohn überall, auch im Orchester. Im Finalsatz durfte sich der Zuhörer auf eine fast surreale Weise als Doppelspielpartner fühlen: Im Geiste hörte er im Klavierspiel unentwegt die Geige mit. Das wirkte nun schon wie ein dunkel-romantisches, hoffmanneskes Spiegelverwirrspiel: Eine Musik verliert ihre Identität und erhält in fast dämonischer Verzauberung umgehend eine andere. Reizvoll wäre sicher auch eine Einrichtung des dritten Klavierkonzerts für Orchester, Pianoforte und Violine. Ein Doppelkonzert also. Für den nächsten „Winterzauber“.

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