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Dem Wesen eines Werkes näher kommen

Untertitel
Ein Lehrgang zu Satztechniken in der Musik des 20. Jahrhunderts
Publikationsdatum
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Was haben musikalische Großtaten wie beispielsweise Stravinskys „Sacre“, Bartoks „Musik für Saiteninstrumente ...“, Schönbergs Op. 16 oder Varèses „Ionisation“ hinsichtlich ihrer Wahrnehmung im heutigen Musikleben gemeinsam? Obwohl schon bis zu hundert Jahre seit ihrer Genese verstrichen sind, werden sie gerne immer noch als „modern“ eingestuft. Diese Einschätzung wird aber nicht nur durch konservative Konzertveranstalter und deren Genusswert-orientierter Klientel vorgenommen, sie mäandert auch gar nicht zu selten durch musikprofessionell besetzte Gesprächsrunden, seien es nun die pädagogisch ausgerichteten Gruppierungen, sei es der künstlerisch-ausübende Dunstkreis.

Ratio und Emotio

Nun wäre aber gegen „Modernität“ im Sinne von „immer noch frisch“, „impulsfähig“, „Aufbruch in sich bergend“ oder ähnlichen Attributen nichts einzuwenden, hier aber steht sie oft für „undurchdringliche, meist in konstruktiver Hybris kondensierende und noch zusätzlich eruptive Klanggebärde von diffuser Wirkung“, die man höchstenfalls staunend von außen „behören“ kann. Ratio würde hier den Anteil an Emotio in ihrer Definition als entspannter Hingabe an das Hören stark übervorteilen, und daher wäre eine Platzierung solcher Werke im zweiten Teil eines individuell dann nach der Pause zu beendenden Konzertabends zu begrüßen ...

Es scheint sich also ein Argument häufig gegen den selbstverständlichen Umgang mit Musik des frühen 20. Jahrhunderts und in mindestens gleichem Maße natürlich auch mit der Folgezeit bis in die Gegenwart herauszukristallisieren: Diese Musik – und dies wird ihr bei aller stilistischen Vielfalt eines Jahrhunderts doch zu gerne pauschal zugeschrieben – sei kaum zu durchdringen, sie erschließe sich schon bei kognitiver Beschäftigung mit dem Notentext nicht leicht, dem Nur-Hörer aber begegne sie mit heruntergeklapptem Visier, ihr Wesen hermetisch bewahrend.

Energieaufwand unverzichtbar

Um also dem Wesen eines Werkes näher zu kommen, scheint grundsätzlich Energieaufwand unverzichtbar zu sein. Dem von musikalischen Spezialkenntnissen unbelasteten Musikhörer bleibt einzig der häufige Hörkontakt in Konzert–– siehe die zu Beginn angedeutete Problematik im Konzertbetrieb unserer Zeit ––und durch elektronische Medien. Dem professionell mit Musik Befassten bieten Fachliteratur und Veranstaltungen an Musikhochschulen und Universitäten zwar grundsätzlich Möglichkeiten einer engeren Kontaktnahme, häufig aber stellen sich in der Realität Hindernisse unterschiedlichster Art entgegen (hochspezialisierte, stark fokussierende Fachliteratur / sich überschneidende Termine / für bestimmte Studiengänge geschlossene Veranstaltungen).

An genau dieser Stelle setzt Christoph Wünschs in der Bärenreiter Studienreihe herausgegebener Lehrgang „„Satztechniken des 20. Jahrhunderts““ an. Der nüchtern gehaltene Titel verbirgt eine sinnvoll vernetzte, kaleidoskopartig angelegte Reise durch die Musik des 20. Jahrhunderts und ihrer bis dahin nie dagewesenen stilistischen Auffächerung. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der ersten Hälfte des Jahrhunderts, und dies scheint unter anderem den eingeschränkten Rahmenbedingungen geschuldet zu sein. Man mag es ebenso bedauern wie begrüßen, dass wertvolle Kapitel wie Kurt Weill, Minimal Music unter anderem. lediglich oder eben doch zusätzlich Platz auf der beiliegenden CD finden konnten. Eine verstärkte Einbeziehung von Stilistika der zweiten Jahrhunderthälfte wäre mit Sicherheit hinsichtlich einer noch intensiveren Zusammenschau sehr spannend gewesen. Gerade weil sich mittel- bis langfristig die Perspektiven des Satzlehreunterrichts an den Hochschulen – und als Begleitmaterial in diesem Rahmen ist der Lehrgang ja unter anderem auch gedacht –  auch auf Schlüsselwerke der letzten Jahrzehnte erstrecken werden müssen, hätte hier ein Zeichen gesetzt werden können.

Musiktheoretische Grundkenntnisse und vor allem die Bereitschaft zur Vertiefung vorausgesetzt, bieten die Kapitel des Lehrgangs instruktive, gut gegliederte und streckenweise auch spannende Lektüre, welche regelmäßig die Begierde nach der Partitur des jeweiligen ganzen Werkes stark werden lassen. Wünsch gelingt es, auf engem Raum präzise Einblicke in satztechnische und kompositorische Details zu geben, diese dann aber auch durch Erweiterung des Blickwinkels im Kontext verständlich werden zu lassen. Dieser Erkenntnisvorgang wird durch viele Notenbeispiele aus Originalwerken, Zitate, Literaturangaben und letztlich durch umfangreiche Aufgabenstellungen auf der CD unterstützt. Zu den Aufgaben finden sich in Abhängigkeit vom möglichen Erwartungshorizont genau definierte Lösungen, Lösungsvorschläge, Kommentare, mögliche Ansatzpunkte oder auch der Verzicht auf Lösungen.

Querlesen und vergleichen

Über die Behandlung von Begrifflichkeiten, Strukturprinzipien und analytischen Spezifika (die Pitch Class Set Theorie von Allen Forte wird als Analyseinstrument nicht tonaler Musik angemessen knapp vorgestellt) verläuft die Kapitelfolge zu den einzelnen Personalstilen. In jedem dieser Porträts befinden sich wiederum Unterkapitel, welche einerseits jeweils typische Vorgehensweisen darstellen, gleichzeitig aber auch oft die gleichzeitig übergreifende kompositorische oder satztechnische Bedeutung beleuchten und ein Querlesen und Vergleichen der Kapitel auf angenehme Weise provozieren. Gerade in diesem Zusammenhang ist die Kapitelauslagerung auf die CD eben auch als bedauerlich zu werten.

Bleibt noch zu sagen: 2009 eigentlich selbstverständlich, für ein Lehrwerk unabdingbar, aber doch erwähnenswert ist die noch vor Jahrzehnten undenkbare ästhetische Neutralität, mit der Säulenheilige ehemaligen Avantgardedenkens wie auch einst Verpönte abgehandelt werden.

Der Band bietet ideale Voraussetzungen, um Studenten – und mit Einschränkungen eventuell auch dem ambitionierten, in die Tiefe strebenden musikbegeisterten Laien – im Sinne obiger Einleitung die Faszination dieser Umbruchszeit vertiefend näherzubringen. Lehrende sollten die Gelegenheit nicht versäumen, Anregungen für den eigenen Unterricht aufzunehmen, andere Perspektiven wahrzunehmen oder sich einfach nur in ihrer Sicht auf die Dinge wohltuend wiederzufinden.

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