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Der Antwortfähigkeit des Publikums auf der Spur

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Beim Karlsruher Festival „ZeitGenuss“ standen Wolfgang Rihm und seine Schüler im Mittelpunkt
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Das in Karlsruhe ansässige Festival für zeitgenössische Musik „ZeitGenuss“, das Ende Oktober stattfand, war dieses Jahr einem tief in der Stadt verwurzelten Mann, dem Komponisten und Pädagogen Wolfgang Rihm gewidmet, der bei der Gründung des Festivals vor sieben Jahren auch die Idee zu dessen Namen hatte. Rihm fungierte in dem von der Hochschule für Musik und der Stadt Karlsruhe veranstalteten Festival auch als Kurator. Und so entschloss er sich, nicht nur Kompositionen aus seinem eigenen, inzwischen um die 550 Werke umfassenden Œuvre zu präsentieren, sondern auch Früchte seiner intensiven Lehrtätigkeit in Form von Stücken seiner jetzigen und ehemaligen Schüler.

An verschiedenen Orten der Stadt erklangen sechs Konzerte in coronabedingt meist kleineren, aber reizvollen und hochkarätigen Besetzungen. Diese wurden durch eine Filmschau, in der die 2019 und 2020 erschienenen SWR-Dokumentationen „Über die Linien. Grenzgänger des Klangs“ und „Das Vermächtnis“ gezeigt wurden, und ein Podiumsgespräch ergänzt. Rihm, der schon seit längerem mit der Diagnose Krebs leben muss, beeindruckte durch seine allgegenwärtige Präsenz, immer in unterstützender Begleitung seiner Frau. 

Im Podiumsgespräch erkundigte sich Moderatorin Tabea Dupree zu Beginn nach dem Planungsprozess für das Fes­tival, woraufhin Rihm erwiderte, dass die Orgel für ihn zwischen seinem 15. und 20. Lebensjahr als Ersatz für Orchester eine sehr wichtige Rolle gespielt habe, was sich auch im Programm widerspiegele. Spannend auch seine philosophischen Auslassungen über Freiheit, von selbst Entstehendes und ungewollt gut Inszeniertes. SWR-Redaktionsleiterin Lydia Jeschke  sprach sich gegen das „Zerdenken“ von Musik aus und betonte, dass Rihms Musik physisch so präsent und von einer so hohen Körperlichkeit geprägt sei, dass sich das Denken beim Zuhörer erst einmal zurückziehen würde. Das Dilemma der Verbalisierung von Musik wurde gleichzeitig mit dem besonderen Prozess des Hörens, dem „Mitproduzieren des Publikums“ und dessen „Antwortfähigkeit“ thematisiert. Neben den genannten Charaktermerkmalen von Rihms

Musik kam das Gespräch auch kurz auf einen für ihn untypischen Gesichtspunkt: das Komponieren mit Elektronik, das er als eine bloße Modeerscheinung bezeichnete. Rihm betonte, wie wichtig für ihn das Gespräch auf Augenhöhe gewesen sei, vor allem mit seinem ersten Lehrer Eugen Werner Velte, aber auch mit prägenden Künstlern wie Stockhausen, Feldman, Humphrey Searle, Fortner und Nono. Der Musikwissenschaftler und Herausgeber von Rihms Schriften, Bernd Künzig, ergänzte, dass Rihm auch über die Jahrhunderte hinweg Gesprächspartner durch das Medium Musik oder auch in der Literatur gefunden habe.

Über das Konzert der Kompositionsklassen am Vorabend zeigte Rihm sich besonders erfreut und hob das „ungemein sorgfältige Umgehen mit dem Phänomen der Horizontale, der Linie, der Energieübergabe“ hervor. Am Freitagabend wurden Kompositionen von sechs Studenten im Alter von 22 bis 37 Jahren aus den Klassen von Markus Hechtle, der als ehemaliger Student Rihms nun mit ihm gemeinsam in Karlsruhe unterrichtet, und Wolfgang Rihm uraufgeführt. Die monumentale evangelische Stadtkirche am Marktplatz bot eine eindrucksvolle Kulisse, ließ jedoch mit ihrer halligen, gewöhnungsbedürftigen Akustik vor allem schnelle Passagen verschwimmen und den Flügel abschnittsweise hart klingen. Die Musiker des Ensembles Tema ließen die Werke der Studenten für Sopransaxophon, Flöte, Violine, Violoncello und Klavier gekonnt erklingen, wobei außerdem die Pianistin Olga Zheltikova, die bei vier Stücken kammermusikalisch und bei einem solistisch mitwirkte, mit ihrem ausdrucksstarken, souveränen Spiel hervorzuheben ist. Die Vielfalt, die die Kompositionen aufzeigten, bestätigte Rihms Behauptung: „Mir ist wichtig, dass diejenigen, die zu mir kommen, zu sich kommen, nicht zu mir.“ So hörte man minimalistisch eingängige Klänge in Moritz Laßmanns „Mimikry“, eruptive, fesselnde und ineinander fließende Linien in Franz Ferdinand August Rieks’ „Nature Vivante“ und ein klagendes Saxophonsolo in Elina Lukijanovas Stück „Out“, das sich gut in die Kirchenakustik einfügte. Die Nummer sechs aus Rihms achtteiligem Zyklus „Über die Linie“, aus dem noch zwei weitere Stücke zu hören waren, ließ den Konzertabend mit Altflöte, Violine und Violoncello im pianissimo ausklingen.

Am Samstag betörte ein sehr persönlicher Liedernachmittag des Baritons Georg Nigl in der intimen Atmosphäre der Lutherkirche. Nigl, der in den letzten Jahren immer wieder als Protagonist in Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ brillierte, hatte ein geschmackvolles Programm mit Liedern von 1979 bis 2019 zusammengestellt. Neben den zwei Werken, die für Nigl komponiert wurden, „Dort wie hier. Zyklus aus einem Heine-Gedicht“ und „Vermisch­ter Traum. Gryphius-Stück“ erklangen die „Neuen Alexanderlieder. Fünf Gedichte von Ernst Herbeck“, „Apokryph. Gesang nach Georg Büchner“ und das „Wölfli-Liederbuch“. Es zeigte sich Rihms großes Interesse für Literatur und auch für psychologische Komplexitäten, die bei den geistig erkrankten Dichtern Wölfli und Herbeck und auch in Georg Büchners Werken zu finden sind. Tolga Anlar begleitete Nigls kantablen Bariton kongenial und die Großen Trommeln am Ende der Wölfli-Lieder, die versteckt von der Empore aus gespielt wurden, verfehlten ihre aufschreckende, an Schüsse erinnernde Wirkung nicht. Insgesamt war der Nachmittag ein schöner Ersatz für Rihms viele Musiktheaterwerke, die coronabedingt nicht im Festival programmiert werden konnten.

Das Kirchenkonzert am Samstag Abend mit dem Titel „Überirdische Klangwelten“ fand wieder in der Evangelischen Stadtkirche statt und stellte die Orgelwerke Rihms in den Mittelpunkt. Vier dieser Jugendwerke ließ der Organist Martin Schmeding, der sie 2019 alle auf CD aufgenommen hat, meisterhaft auf den zwei Kirchenorgeln erklingen. In Abwechslung mit „Über die Linie I und VII“ für Violine solo und Violoncello solo und Ausschnitten aus der „Missa brevis“ für Chor a cappella bot sich ein Einblick in das Experimentieratelier des jungen Rihm, das in improvisatorischem Charakter gewaltige Klangwolken entstehen ließ. Der Cellist Lucas Fels und die Geigerin Tianwa Yang waren den musikalisch wie technisch herausfordernden Solowerken für Cello und Violine spielend gewachsen, wobei Fels auf eine zurückgenommene und Yang bei dem an die 25 Minuten dauernden Solostück auf eine spannungsgeladene Interpretation setzte. Einem so guten Chor wie dem CoroPiccolo unter der Leitung von Christian-Markus Raiser zuhören zu dürfen, ist in Pandemiezeiten ein rares aber umso schöneres Erlebnis. Sein Vortrag endete nach einem mitreißenden „Sanctus“ mit den Worten „Dona nobis pacem“.
Das Abschlusskonzert im Wolfgang-Rihm-Forum konnte man aufgrund der begrenzten Platzzahl auch digital über idagio.com mitverfolgen. Die Veranstalter des gut besuchten Festivals haben also, so kann man bilanzieren, die Herausforderung Corona souverän gemeis­tert. So wurde Zuhören zu einem echten Zeitgenuss.

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