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Der letzte Großkomponist beim ersten Auftakt-Festival

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Die Frankfurter Alte Oper feiert Hans Werner Henze mit Konzerten und einem Symposium
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In Frankfurt hat die Alte Oper ihre Finanz- und Legitimationskrise inzwischen überwunden. Zum ersten Mal wurde jetzt im September 2001 die Saison mit einem Auftakt-Festival eröffnet, dessen Programm sich durchaus mit den früheren Frankfurt-Festen messen konnte und vor allem die zeitgenössische Musik wieder konsequent auf die Programme setzte. Klare Schwerpunkte waren ein umfangreiches Komponistenporträt zu Hans Werner Henzes 75. Geburtstag und ein ausführliches Interpretenporträt zu Alfred Brendels 70. Geburtstag; zudem fand auch der 65. Geburtstag Hans Zenders Berücksichtigung.

In Frankfurt hat die Alte Oper ihre Finanz- und Legitimationskrise inzwischen überwunden. Zum ersten Mal wurde jetzt im September 2001 die Saison mit einem Auftakt-Festival eröffnet, dessen Programm sich durchaus mit den früheren Frankfurt-Festen messen konnte und vor allem die zeitgenössische Musik wieder konsequent auf die Programme setzte. Klare Schwerpunkte waren ein umfangreiches Komponistenporträt zu Hans Werner Henzes 75. Geburtstag und ein ausführliches Interpretenporträt zu Alfred Brendels 70. Geburtstag; zudem fand auch der 65. Geburtstag Hans Zenders Berücksichtigung.Ganz im Zeichen Henzes stand das Eröffnungswochenende Anfang September. Ein Glücksfall war der Freitagabend, an dem es im Mozart-Saal Barrie Gavins erst in diesem Jahr abgeschlossene Filmdokumentation „Memoiren eines Außenseiters“ zu sehen gab. Zuvor präsentierte Jan Philip Schulze zusammen mit dem kommentierenden Jubilar das vollständige Klavierwerk (zu zwei Händen). Henze, entspannt und rüstig wirkend, gab sich anfangs lakonisch, ließ sich jedoch vom Pianisten überzeugen, diejenigen Elemente in den zwölftönigen Variationen für Klavier op. 13 von 1949 zu identifizieren, die er später weiter entwickelt habe: den lyrischen Tonfall und die Präsenz von Dur- und Molldreiklängen.
Als „stilistischen Berater“ bei seiner Sonata per Pianoforte von 1959 zitierte er Joseph Haydn – unter Berufung auf dessen experimentell angelegte Klaviermusik. Obwohl das Stück konsequent seriell angelegt ist und demgemäß emotionale Sprödigkeit ausstrahlt, gestaltete Jan Philip Schulze die Musik als eine durchaus spontan wirkende Entdeckungsreise in den Klangraum des Instruments.

Was dem Zuhörer dann in den Lucy Escott Variations von 1963 als aparte Verfremdung der zu Grunde liegenden Arie aus Bellinis Somnambula erscheinen mochte, wollte der Komponist nicht völlig gelten lassen: Bellinis Es-Dur sei leider nicht totzukriegen. Hingegen bekannte er sich durchaus zu den drei Miniaturen für Klavier Cherubino (1980/81), die mosaikhaft die berühmte Ariette aus der „Hochzeit des Figaro“ in verschiedens-ter Beleuchtung anklingen lassen. „Mozarts Helligkeit und Perfektion hebt den armen Autor des 20. Jahrhunderts auf und an“, lautete der bezeichnende Kommentar.

Henze verriet, dass seine wenigen Klavierstücke – bis hin zur Toccata Mistica von 1994 – oft Vorstudien oder Nachklänge von größer besetzten Werken bedeuteten. Ihre Intimität und Transparenz verleiht diesen „Nebenwerken“ allerdings besonderen Charme. Zumindest in der stets einfühlsamen und dabei spannenden Interpretation Schulzes – eher introvertiert als expressiv, beseelt vom Hineinhorchen in den Klang – erschien die Klaviermusik kaum jemals aggressiv, sondern lyrisch in der Grundhaltung, aber nicht ohne immer wieder zwischendurch aufblitzenden Witz.

Intimität und Diskretion zugleich sprechen auch aus den „Memoiren eines Außenseiters“, Barrie Gavins 90-minütigem Filmporträt des Komponisten. Der Film zeigt Henze auf seinem italienischen Landsitz in Marino bei Rom. Gespräche mit ihm, seinem Komponistenkollegen und Freund Oliver Knussen, den Dirigenten Simon Rattle, Markus Stenz und Ingo Metzmacher, sowie seinem Lebensgefährten Fausto Moroni, Zitate aus seiner Autobiografie und Ausschnitte alter Dokumentaraufnahmen vermitteln ein facettenreiches Bild des Jubilars.

Immer wieder blitzt in atmosphärischer Kürze Wesentliches auf, und aus den Gesprächen, den Landschaftsbildern, den zahlreichen Musikeinblendungen aus vier Jahrzehnten entsteht das Bild eines Lebens, das allen historischen Gräueln und persönlichen Gefährdungen zum Trotz die Utopie des Glücks nie aus den Augen (und den Ohren!) verloren hat. Ziemlich am Ende fällt ein in der Autobiografie zitierter Satz von Henzes Librettisten Wystan Hugh Auden: „Menschen, die sich nicht für ihre Geschichte interessieren, glauben nicht an ihre Zukunft.“ Henze selbst sagt im letzten Bild, beim Gang durch den Garten von Marino, einfach: „Und so weiter...“

Hans-Klaus Jungheinrich, Musikredakteur der Frankfurter Rundschau und Organisator und Leiter des zweitägigen Henze-Symposiums, nannte den 75-Jährigen bei der Eröffnung im Hindemith-Saal „den letzten Großkomponisten“ (und mochte allenfalls Wolfgang Rihm als „allerletztem Großkomponisten“ unter den Lebenden noch einen vergleichbaren Status zubilligen). Tatsächlich muss man in Henzes persönlichem und kompositorischem Individualismus wohl ein Relikt der Genieästhetik des 19. Jahrhunderts sehen. Zudem vermochten die auf dem Podium versammelten Henze-Experten nicht so recht die unter ihnen aufkommenden Zweifel zu widerlegen, ob denn der Gefeierte im Musikleben überhaupt noch wirklich präsent sei. Henze als Fossil, das ganze Wochenende eine vollkommen anachronistische Veranstaltung? Dagegen sprach schon die Vitalität, mit der der 75-Jährige aus dem Libretto seiner neuen Oper „L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe“ las, die 2003 in Salzburg uraufgeführt werden soll. Das „Deutsche Lustspiel aus dem Arabischen“ (so der Untertitel) lässt eine farbige Märchenoper voller hintergründigem Witz erwarten. Dass Henze nach Ende des weitgehend schon vertonten 1. Teils plötzlich das Ende der Veranstaltung dekretierte und im Übrigen das ihm gewidmete Symposium mit Abwesenheit bedachte, gehört wohl zu den Privilegien eines gestandenen 75-jährigen Großkomponisten.

Während der Vorträge beschlich den Zuhörer bisweilen das Gefühl: „Warum fragen wir nicht einfach Henze selbst?“ Gerade beim Thema „Im Laufe der Zeit. Kontinuität und Veränderung bei Hans Werner Henze“ hätte das nahe gelegen. Reinhard Kager (Wien und Graz) skizzierte Henzes problematisches Verhältnis zur Darmstädter Avantgarde, Jürg Stenzl (Wien und Salzburg) behandelte die nicht ungebrochene Freundschaft zwischen Henze und Luigi Nono, und Max Nyffeler (München) beleuchtete unter dem Titel „Der Westfale. Der Weltbürger“ die schwierige Beziehung des Komponisten zu Deutschland.

Die Beiträge von Hans-Klaus Jungheinrich („Biografische Rhythmen bei Henze“) und von FAZ-Musikredakteur Gerhard R. Koch („Politische Ästhetik“) gewannen ihren Reiz aus der persönlichen Vertrautheit mit dem Komponisten und den letzten Jahrzehnten des deutschen Musiklebens. Julia Spinola, ebenfalls Redakteurin bei der FAZ, erläuterte die Entwicklung des Henze’schen Musiktheaters. Für die gelegentlich ermüdenden Überschneidungen in den Vorträgen entschädigten die sich lebhaft entwickelnden Diskussionen, und mit der Zeit kristallisierten sich hier die entscheidenden Stichworte heraus.

Immer wieder im Mittelpunkt standen der Sprachcharakter von Henzes Musik, sein fast apollinisches Schönheitsideal, dem dialektisch das Konzept einer „Musica impura“, die menschliche Schwächen und Unvollkommenheiten in sich aufnimmt, entgegensteht und sein kompositorischer Pragmatismus. Henzes Individualismus, seine (bisweilen ungerechte) Verletzlichkeit, sein Arbeitsethos und sein Getriebensein kamen ebenso zur Sprache wie sein Bedürfnis nach Verstandenwerden und Zugehörigkeit und seine Politisierung durch die Studentenrevolte von 1968.

Zusehends rückte einem über die biografische Fokussierung der eigenwillige Jubilar näher: Ist nicht auch im Zeitalter von Multioptionsgesellschaft, hedonistischer Ideologiefreiheit und Patchwork-Biografie bei vielen Menschen noch das Bedürfnis virulent, dem eigenen Leben eine sinnvolle und womöglich kreative Richtung zu geben, ohne dabei ihre eigene Identität zu verleugnen? – Jan Müller-Wieland (Berlin), einst Kompositionsschüler Henzes, wagte in seinem Vortrag „Henzes ‚Enkel‘ – Im Fokus des Widerständigen“ eine beeindruckende, sehr persönliche und engagierte Auseinandersetzung mit der „9. Sinfonie“ seines Lehrers.

Der 1966 geborene Komponist legte hier ebenso Wert auf Henzes Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit (anhand von Anna Seghers’ Roman „Das siebte Kreuz“) wie auf die Bezüge zu Beethovens und Mahlers 9. Sinfonie als musikalischen Schlüsselwerken der Vergangenheit. Wie sehr Henzes rein instrumentales Requiem (1990–92 entstanden) von Querbezügen zu eigener und fremder Musik lebt und damit gewissermaßen Geschichte in sich aufnimmt, zeigte schließlich Siegfried Mauser (Salzburg) in seinem Vortrag, der unmittelbar der Aufführung voranging.

Die Realisation des Requiems im Großen Saal durch das Ensemble modern unter Oliver Knussen (mit Ueli Wiget am Klavier und William Forman an der Solotrompete) wirkte danach eher ernüchternd. Überaus engagiert gespielt, erschlug Henzes Partitur den Hörer immer wieder beinahe durch die Massivität des klanglichen Aufwands. Dass in der überbordenden, expressiv aufgeladenen Orchesterpolyphonie durchaus ein kompositorisches Problem liegen könnte, klang später auch beim Symposion an. Englische Orchester, weniger stark durch Wagner und Brahms geprägt, kämen mit Henzes Partituren gemeinhin besser zurecht als deutsche, meinte Müller-Wieland.

Vielleicht hätte Knussen als Dirigent hier doch stärker führen müssen. Schon in Gavins Henze-Film erwähnt Simon Rattle die charakteristische Frage an den Komponisten: „Welche von den 25 Linien möchtest du hören?“ Wo der Komponist sich nicht entscheiden könne, müsse der Dirigent seinen eigenen Weg finden, lautete Rattles Konsequenz. – In Henzes rein instrumentalem „atheistischen“ Requiem, begonnen im Andenken an seinen verstorbenen Freund Michael Vyner, dürfte aber auch ein Moment persönlicher Überwältigung mitschwin-gen. Viele ihm nahestehende Menschen hat der Komponist im Laufe seines Lebens verloren, doch – wie er im Film anrührend formuliert – „die vielen Geister, die man gerufen hat im Laufe seines Lebens, die sind alle noch da.“

Während es in der Abschlussdiskussion gelang, die Frage „Henze, ein unpolitischer Künstler?“ zufriedenstellend von verschiedenen Seiten zu beleuchten, kratzte man unter Zeitdruck bei „Henze, ein Postmoderner?“ bloß ein wenig an der Oberfläche. Erstaunlich, dass bei allen angestellten Vergleichen auf dem Podium niemand auf einen Komponisten kam, mit dem Henze entscheidende Wesenszüge gemeinsam hat: Nicht nur das mediterran geprägte musikalische Schönheitsideal, die Faszination durch Mozart, die Neigung zur Orchesterpolyphonie und zur kantablen Führung von Instrumentalstimmen, der unbefangene Umgang mit historischem Material, sondern auch die zunehmende Hinwendung zu pädagogischer Aktivität, die Vorliebe für den individualistischen Platz zwischen den Stühlen, die gleichzeitige Affinität zu Italien und Deutschland, vielleicht auch das Interesse an der literarischen Figur des Doktor Faust. (Und wie heißt, ob Zufall oder nicht, Henzes Lebensgefährte?)

Gemeint ist der Deutschitaliener Ferruccio Busoni. Er starb schon 1924 in Berlin und verstand sich immer weniger als Tastenlöwe und Großkomponist, sondern zunehmend als Wegbereiter für seine Schüler, darunter so unterschiedliche Figuren wie Kurt Weill und Edgar Varése. Wenn beim nächsten Auftakt-Festival dann Wolfgang Rihm als „allerletzter Großkomponist“ zu seinem Recht gekommen ist, wird man auch in Frankfurt an die junge Generation denken müssen.

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