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Derridada, Jelinek

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Dass „das“ deutsche Stadttheater, gewissermaßen als das in viele rhizomatische Ecken und Enden zerfallende Wurzelwerk im Humus der deutschen Kulturnation, zum Opernhaus des Jahres gekürt wurde, hat viel Zustimmung erfahren und noch mehr (oft maskierten) Hohn und Spott. Lässt man das weg, was eher auf die Cocktail-Couch gehört und vor allem der Selbstbeweihräucherung dient, letztlich also sogar die Frage nach Qualität und Innovation et cetera, geht es hier vor allem um eine Grundfrage aller Zivilisation: Was und wie wird „tradiert“, auf welche Weise kommt, im Lauf der Zeit und durch alle Interpretationen hindurch, ein mehr oder minder heiliger „Text“ zu uns. Ein Text, der unser „Grund“ und unser „Herz“ ist, der uns zu dem macht, was wir sind. Es geht also, selbst wenn Stadttheater zu Opernhäusern des Jahres werden, letztlich um die leidige Frage nach der Identität.

Dass diese Frage politisch und gefährlich ist, dass sie zu dem führt, was man den Extremismus der Mitte nennen könnte, hat vielleicht nicht als erster, aber nachdrücklicher als andere der kürzlich verstorbene Philosoph Jacques Derrida thematisiert. Natürlich ist er, wie fast jeder Denker des 20. Jahrhunderts von Belang, zunächst Nietzscheaner, das heißt er kennt dessen philologische, ja ärztliche Grundforderung an den kulturellen Diskurs, Text und Interpretation konsequent zu unterscheiden. Aber er geht weiter als der Anti-Ideologe Nietzsche; er ist zugleich bescheidener und radikaler. Derrida weiß, dass jeder Text notwendig „transzendent“ ist, dass niemand einfach so behaupten kann, über ihn zu verfügen. Sinn entzieht sich – und er wird zusätzlich verstellt von denen, die ihn sozusagen routinemäßig in ihrem Repertoire haben. Wer längere Zeit Gulda gehört hat und jetzt meint, das sei Beethoven und deshalb eine Deutung beispielsweise von Pogorelich absurd findet, der fetischisiert eine bestimmte Interpretation, verwechselt sie mit dem „Text“ und will, im Namen des Textes, alle anderen Annäherungen ausschließen, vernichten und verbieten. Auch über das Regietheater kann nur schimpfen, wer seine Wahrnehmung des Textes für den Text selbst hält. Derrida hat gezeigt, dass alle, die vorschnell über den Sinn verfügen, zu Dummheit und Gewalt beziehungsweise, was der gemeinsame Nenner ist, zu Einschluss und Ausschluss neigen. Weil er den Sinn-Aufschub propagierte, wurde er gern „Derridada“ genannt, in Anspielung auf die Dadaisten, die mitten im Wahn-Sinn des Ersten Weltkriegs, Sinnverweigerung und Sinnverschiebung für die letzte mögliche Strategie der Vernunft hielten. „Derridada“ war als Beschimpfung gemeint, erweist sich aber für jeden, der noch zu einem Rest an Nachdenklichkeit bereit ist, rasch als das ultimate Lob.

Eine solche Ambivalenz der Etikettierungen ist auch bei den Nobelpreis-Laudationes für Elfriede Jelinek am Werk: Alle, die begeistert über die überraschende Entscheidung der Stockholmer Akademie sind, denunzieren sie, weil sie die uneinnehmbare, eher noch hysterische als verlässliche Elfriede Jelinek zur Parteigängerin machen. Und die, die sie zu beschimpfen meinen, indem sie behaupten, ihre Texte seien noch nicht Theater, sondern würden erst von fantasievollen Regisseuren zu Theater gemacht, würdigen sie in Wahrheit und wissen, wenn auch in verkehrter Form, was Kulturarbeit bedeutet.

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