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Die Binnenverhältnisse dieser Welt

Untertitel
Thomas Steinfeld untersucht die Rolle der Rock- und Pop-Musik
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Thomas Steinfeld: Riff. Tonspuren des Lebens, DuMont, Köln 2000, 274 Seiten, 38 Mark

Thomas Steinfeld: Riff. Tonspuren des Lebens, DuMont, Köln 2000, 274 Seiten, 38 MarkErinnerung ist ein höchst beweglicher Vorgang, nur dem vorschnellen Urteil erscheint sie als Faktenbesitz. Wo es um Lebensgeschichten geht und um Erinnerung in der 1. Person, wird die Lage noch komplizierter. Denn hier bricht sich das Kontinuum des Lebens an den unterschiedlichen Perspektiven, die im Lauf der Jahre die Sicht formierten. Der Gegenstand des Erinnerns fügt sich zusammen aus der gelebten Erfahrung und einem stets neu vergegenwärtigenden Blick.

Thomas Steinfeld erinnert in seinem Buch „Riff“ an die Pop- und Rockmusik der 60er- und 70er-Jahre. Mit einem poetisch collagierenden Verfahren sichert er „Tonspuren des Lebens“. Gleichzeitig entwirft er eine Landkarte der Gegenwartskultur. Das Augenmerk gilt einem unmerklich Übergroßen – die populäre Kultur gleicht einer geografischen Bezeichnung, die nicht gesehen wird, weil sie mit ihren Lettern die ganze Landkarte überzieht.
Steinfeld kartografiert ein Terrain, das spätestens seit Peter Handkes „Versuch über die Jukebox“ in entspannter Weise begehbar ist. Die Arbeit des Erinnerns, des Neusehens und -hörens ist über jene Art der Entgegensetzung hinaus, die sich der eigenen popmusikalischen Sozialisation zu entziehen versucht. Auch geht es nicht mehr um den Zwischenschritt einer ironischen Wiederannäherung, die in einem Spiel der Ambivalenzen mündet. Weder Adorno noch der ironische Jugendbericht stehen Pate, wenn Steinfeld sich dem seit dreißig, vierzig Jahren gültigen Repertoire einer neuen Volksmusik zuwendet, für das die Bezeichnung „Oldies“ schon wieder aus der Mode ist. „Eleanor Rigby“ oder „Satisfaction“ sind zu „Hymnen des Lebens“ geworden, in ihnen speichert sich die Erfahrung einer Generation. Ja, die heute Sechzigjährigen entstammen schon mehr oder weniger der Welt des Rock’n’Roll.
Steinfeld, Feuilletonist und ehemaliger Rockmusiker, untersucht mit einem stupenden Fachwissen die Binnenverhältnisse dieser Welt. So fragt er nach dem Zusammenhang zwischen der regulierbaren Eingangsempfindlichkeit von Verstärkern und der Differenzierung des Elektrobassspiels bei Jaco Pastorius.

Und er weiß, ab welchem Zeitraum der Spieler einer Fender-Jaguar-Gitarre selbst in Gymnasiastenbands als nicht mehr satisfaktionsfähig galt. Wie ein Brennspiegel der neuen musikalischen Weltkultur erscheinen bei Steinfeld die „Riffs“, wobei es nicht um Meeresuntiefen, sondern um die für den Rock charakteristische Verschiebung von der Melodie zum Rhythmus geht. Die akkordische Gitarrenfigur in „Smoke on the Water“ von Deep Purple liefert das prägnanteste Beispiel – für hunderttausende von Freizeitgitarristen das erste und letzte Wort auf dem Instrument.

Vor allem geht es Steinfeld aber um die Rolle der Rock- und Popmusik im Kontext der Gesamtentwicklung der Kultur und Lebenswelt. Die einzelnen Kapitel des Buches versammeln die musikalischen Elemente und setzen sie in Bezug zu den unterschiedlichsten Entwicklungen: Gilles Deleuze und Andy Wahrhol liefern dabei ebenso Anhaltspunkte wie Michelangelo Antonioni oder Wim Wenders. Besonderes Gewicht legt Steinfeld auf Querbezüge zur Literatur: Marcel Proust, Albert Camus oder Uwe Johnson tauchen ebenso auf wie Michelle Houllebecq oder Rainald Goetz.

Die besondere Attraktivität des Buches liegt nicht zuletzt darin, dass die beschreibende Dichte und der Collagencharakter nicht zu Lasten der Lesbarkeit gehen, ja, es entsteht ein fast lyrischer Gesamteindruck – der an einigen Stellen allerdings von sperrig eingearbeiteten Übersetzungen englischer Textpartien unterlaufen wird.

Sachliche Probleme ergeben sich dort, wo Steinfeld in seinem Versuch, der Populärkultur jenseits von Verteufelung oder Ironisierung gerecht zu werden, zu nachhaltig mit überkommenen Kritikfiguren bricht. Dass Adorno in Sachen Populärkultur oft danebenlag, steht inzwischen außer Frage – doch nicht selten irrte er in die richtige Richtung. So trifft seine Kritik der Kulturindustrie nach wie vor viele der in diesem Feld bestimmenden Faktoren. Auch geht Steinfelds These von der Hitparade als einer Übung in direkter Demokratie an den Determinanten entsprechender Veranstaltungen wohl vorbei. Treffender wäre es, der wenig romantischen Serialisierung des Geschmacks, die hier stattfindet, nachzugehen. Sartre hat Entsprechendes sehr früh schon an diesem Phänomen aufgezeigt.

Thomas Steinfeld erfasst in seinem Buch Konstellationen, in denen die Reichweite und die ungebrochene Kraft der Pop- und Rockmusik deutlich wird.

Es ist die Kultur, in der die meisten Zeitgenossen fraglos zu Hause sind. Der Autor betreibt ein Stück Archäologie im Dienst der Jetztzeit, wobei sich die gelebte Erfahrung auf überraschend neue Weise erschließt.

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