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 Stuttgarts Eclat-Festival begann mit einer Huldigung für Clytus Gottwald. Dabei waren auch Weggefährten (v.li.): Dieter Schnebel, Heinz Holliger und, rechts außen, Pierre Boulez (siehe Seite 37).
Stuttgarts Eclat-Festival begann mit einer Huldigung für Clytus Gottwald. Dabei waren auch Weggefährten (v.li.): Dieter Schnebel, Heinz Holliger und, rechts außen, Pierre Boulez (siehe Seite 37).
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Die Neue Musik erobert ein neues Publikum

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Beobachtungen bei diesjährigen Festivals in Kiel, Berlin und Stuttgart · Von Gerhard Rohde
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In der Schleswig-Holsteinischen Landeshauptstadt Kiel gibt es ein neues Festival der Neuen Musik – unter dem Titel „Chiffren“. In Stuttgart gibt es schon lange Tage der Neuen Musik, die sich seit einigen Jahren den ebenso griffigen Titel „Eclat“ zugelegt haben. In Berlin gibt es zum Auftakt des Jahres das UltraSchall-Festival. Wer diese drei Avantgarde-Veranstaltungen jetzt kurz nacheinander besuchte, war immer wieder überrascht vom enormen Interesse eines neugierigen Publikums, in dem sich die Zuhöreranteile bemerkenswert ausgewogen auf ältere und jüngere Generation verteilten. Über die Gründe für dieses im Gegensatz zu früheren esoterischen Zeiten gewandelte Engagement für die Musik der Gegenwart darf spekuliert werden. Nur positiv ist zunächst festzustellen, dass es nun einmal so ist.

In dieser Ausgabe der neuen musikzeitung beschäftigen sich mehrere Artikel mit dem Thema Neue Musik. Über das UltraSchall-Festival mit der Uraufführung von Pascal Dusapins „Faust“-Oper wird auf den Seiten 39/40 berichtet, über das „Eclat“-Festival auf den Seiten Eine virtuelle ästhetische Diskussion über Neue Musik, die Armin Köhler, Redakteur für Neue Musik beim Südwestrundfunk, mit vielen Komponisten führte, beschäftigt sich mit Grundsatzfragen des Komponierens heute (Seite 3ff.).

Über die Kieler „Chiffren“ soll an dieser Stelle etwas Eigenes gesagt werden. Es ist ja nicht so, dass Neue Musik im Norden eine Terra inkognita wäre. An der Kieler Oper wurde schon unter Joachim Klaiber und Hans Zender, später unter Peter Dannenberg und Klauspeter Seibel engagiertes, nach vorn weisendes Musiktheater geboten. Was in der letzten Vergangenheit fehlte, war so etwas wie eine Zusammenfassung der im Lande vorhandenen, aber verstreuten Potentiale. Also verbündeten sich das von Friedrich Wedell geleitete „Forum für zeitgenössische Musik“ an der Kieler Universität, das vom Komponisten Gerald Eckert geleitete ensemble reflexion K“ in Eckernförde, der Landesmusikrat und die Lübecker Musikhochschule unter Dieter Mack zu einem „Netzwerk“, zu dem noch, und das ist staunenswert, die für die Kultur im Lande zuständige Staatskanzlei und die Stadt Kiel stießen: nicht nur als passive Geldgeber, sondern als aktive Mitgestalter des Programms in Person ihrer Musikreferentinnen Cerstin Gerecht (Kiel) und Gabriele Nogalski (Staatskanzlei). Die Kompetenz der beiden Referentinnen sollte Gewähr dafür bieten, dass dieses inhaltliche Engagement der „Politik“ an den „Chiffren“ auch in Zukunft erhalten bleibt.

Schließlich bieten die „Chiffren“ nicht nur die üblichen Konzerte mit Ur-und Erstaufführungen neuer Werke, sondern sie haben sich zugleich die intensive Vermittlung gegenwärtigen Komponierens, besonders an junge Menschen, als Aufgabe gestellt. In dieser Hinsicht gab es jetzt schon beim ersten Mal verheißungsvolle Ansätze, von informativen Einführungen über praktische Unterweisungen junger Instrumentalisten durch die erfahrenen Musiker des „ensemble reflexion K“ bis hin zu einem eigenen Konzert junger Komponisten, die als Preisträger aus entsprechenden Wettbe- werben hervorgingen. Diese Initiativen „dienen“ nicht allein der Neuen Musik und deren besserem Verstehen, sie ersetzen gleichsam auch ein wenig die großen Defizite der schulischen Musikerziehung, für die sich eigentlich die staatliche Bildungspolitik zuständig fühlen müßte. Insofern leisten Stadt und Land mit ihrer Beteiligung am Kieler „Chiffren“-Festival“ eine kleine Wiedergutmachung, die auch in Zukunft nicht zur Disposition stehen sollte. Im Übrigen öffnen sich für das Neue-Musik-Festival in Kiel viele programmatische Perspektiven. In den skandinavischen Ländern und den baltischen Staaten gibt es eine bemerkenswert vielfältig-farbige und substanzreiche Avantgarde-Szene, für die man eine „Brückenfunktion“ ausüben könnte. In Deutschland und im westlichen Europa weiß man viel zu wenig von den in den genannten Ländern arbeitenden Komponisten. Umgekehrt wäre es auch hohe Zeit, Schleswig-Holsteins Musikinteressierten verstärkt die Möglichkeit zu bieten, sich über aktuelle Tendenzen in der internationalen Neuen Musik und die dazu gehörenden Komponisten sozusagen „live“ zu informieren. Mit Beat Furrer, Bernhard Lang, Salvatore Sciarrino und, etwas retrospektiv, John Cage war diesmal immerhin ein Anfang gemacht. Und noch etwas: Die neuen „Chiffren“ müssen in Anbetracht ihrer programmatischen Vielfalt unbedingt jährlich stattfinden. Als Biennale, wie geplant, entstehen zu große zeitliche Abstände, die einem kontinuierlichen Aufbau des Festivals zuwiderlaufen würden. Über alles muss sorgfältig diskutiert werden.

Auch über die finanzielle Ausstattung des Festivals, die bisher eher bescheiden anmutet. Eine Veranstaltung der Neuen Musik, und das gilt für alle Avantgarde-Festivals, ist in erster Linie ein Laboratorium, in dem eine neue Klangästhetik, neue Ausdrucksformen erforscht und in Realität umgesetzt werden. Mit anderen Worten: Es braucht Komponisten, die für diese Experimente die entsprechenden Werke schreiben. Ein Neue-Musik-Labor funktioniert nicht anders als eines für Physik oder Chemie. Deshalb ist es auch so sinnwidrig, wenn dem Mitveranstalter des Stuttgarter Eclat“-Festivals, dem SWR, die Möglichkeit genommen wird, neue Auftragskompositionen zu vergeben. Unter dem Vorwand notwendiger Sparmaßnahmen, wird der Neuen Musik großer Schaden zugefügt. Da der Intendant des SWR Peter Voß heißt, weiß man schnell, warum das so ist. Die Verbissenheit, mit der der Intendant die Aktvitäten der Neue-Musik-Redaktion zu beschränken versucht, ebenso die Existenz des SWR-Vokalensembles, sollte den Aufsichtsgremien des Senders einmal eine genauere Prüfung wert sein. Aber Peter Voß steht wohl nicht allein. Der Norddeutsche Rundfunk hielt es nicht für nötig, über die Kieler „Chiffren“ zu berichten. Eine Ankündigung, das wars. Was sitzen in der Musikredaktion dieses Senders nur für Leute?

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