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Die Passauer Musikszene gerät in Bewegung

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Gekämpft und gewonnen: Festival für Neue Musik „Alles im Fluss“ in der Drei-Flüsse-Stadt
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Geld ist nicht das schlechteste Kriterium, um öffentliche Wertschätzung zu messen. Acht Millionen Euro investiert das von der Kulturstiftung des Bundes ins Leben gerufene Netzwerk Neue Musik von 2008 bis 2011, um zeitgenössischen Werken endlich einen angemessenen Platz in der Konzertwelt zu verschaffen. 120.000 Euro hätte die Stadt Passau im Südosten Bayerns als Sockelfinanzierung aufbringen müssen, um weitere 280.000 Euro Fördermittel für ein nationales Vorzeigeprojekt in Neuer Musik zu erhalten – und ist damit offensichtlich überfordert. Nur durch das Engagement eines privaten Bürgen schafft es das Festival „Alles im Fluss“ der gebürtigen Passauer Geigerin Annette Reisinger vom Kölner Minguet Quartett unter die 15 bundesweit geförderten Projekte des Netzwerks Neue Musik – ein Start mit Hindernissen ...

Als dann noch die städtische Event GmbH als geplanter Veranstalter einen kühnen Finanzplan aufstellt, nach dem von den insgesamt 400.000 Euro nur schäbige 150.000 für Künstlergagen übrig geblieben wären, sind es wieder die Idealisten der Passauer Kulturszene, die das Projekt nun bereits zum zweiten Mal retten: Annette Reisinger schafft es, eine Koalition der maßgeblichen Kulturschaffenden der Region zu schmieden und mit diesen einen Verein zu gründen, der fortan das Vierjahresprojekt ohne die städtischen Institutionen organisiert.

Die Notlösung erweist sich als Glücksgriff für „Alles im Fluss“, das damit zum Festival für alle Spielarten der Neuen Musik wird: Annette Reisinger bringt ihre Kompetenz auf dem Feld der zeitgenössischen Klassik ein, der oberösterreichische Jazzveranstalter und Labelinhaber Paul Zauner, der die bayerische Szene seit Jahren außerordentlich bereichert, steuert Aspekte der improvisierten Musik, des Jazz und der zeitgenössischen ethnischen Musik bei. Damit wird zugleich eine starke Bindung des Festivals an die Stadt und das Konzertpublikum erreicht:
Denn mit zwei herausragenden Bühnen im Scharfrichterhaus und im Café Museum hat sich in diesem Jazzkontext ein offenes, experimentierfreudiges und treues Publikum entwickelt, an das „Alles im Fluss“ nahtlos anknüpfen kann. Was sich in der modernen Klassik bislang eher als schwierig erweist – abgesehen von den regelmäßigen und tapferen Versuchen der Festspiele Europäische Wochen – gibt es hier keine Konzerttradition in der Region.

Gnadenlos schlägt sich die verstörende erste Begegnung mit dem fremden Klangkosmos schon beim Auftaktkonzert des Hauptfestivals auf die Besucherreaktionen nieder: „Schwierig“, „anstrengend“, „wie Versatzstücke“, „Gott sei Dank muss der nicht vom Plattenverkauf leben!“, urteilen die Mitglieder der sogenannten „Spiegelgruppe“ – der Neuen Musik eher fernstehende Personen, die das Festival bei freiem Eintritt verfolgen und deren Eindrücke auch publiziert werden. Die Organisatoren um Projektleiterin Elke Burmeister haben sich mit der „Spiegelgruppe“ dafür entschieden, nicht nur gegen die Vorbehalte des Publikums anzuspielen, sondern sie offen zum Thema zu machen. Das ist manchmal schmerzhaft, aber auch ehrenwert aufrichtig.

Dabei erweist sich die Programmierung der Konzerte bisher als überaus klug: So stellt das Minguet Quartett zum Auftakt des Festivals Wolfgang Rihms Streichquartett „Im Innersten“ Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur gegenüber. Wobei der gebürtige Niederbayer Siegfried Mauser dem dankbaren Publikum vorab am Piano Einflüsse und Parallelen zwischen den Werken demonstriert – auch das en passant ein gelungener Versuch, das Festival regional zu verankern.

Wie hier, so agiert Annette Reisingers Quartett auch im Schlusskonzert unter anderem mit Jörg Widmanns „Jagdquartett“ und „Choralquartett“ sowie Richard Strauss’ „Metamorphosen“ auf einem überragenden Niveau, akkurat ausbalanciert, zupackend musikalisch, technisch makellos. Ein gelungener Ansatz ist auch die Verknüpfung von Passauer Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts mit zeitgenössischen Werken beim Konzert des Ensembles Ars Antiqua Austria von Gunar Letzbor, das ein ungewöhnlich erdig-duftiges Barockklangbild pflegt. Zur Freude der Veranstalter siegen in der Publikumsgunst nicht die alten Meister, der größte Jubel gilt tatsächlich der „Sonata Carantana“ aus dem Jahr 2006 des Österreichers Rudolf Jungwirth. Für den emotionalen Höhepunkt des Festivals aber sorgt ein Improvisations-Trio im intimen Kellergewölbe des Café Museum in der Passauer Altstadt. Der italienische Akkordeonist Luciano Biondini, der niederländische Cellist Ernst Reijseger und der französische Tubist Michel Godard treten in ein musikalisches Gespräch, das nicht nur die natürlichen Grenzen des eigenen Instruments überschreitet, sondern auch ein dicht geknüpftes Ganzes zwischen italienischer Liedtradition und Freejazz entstehen lässt.

So bietet „Alles im Fluss“ in seinem ersten Jahrgang Neue Musik in unterschiedlichsten Schattierungen. Nach dem Hauptfestival setzt sich die Improvisationsreihe in der Altstadt das ganze Jahr über fort. Am 4. Juli wird die Passauer Kunstnacht zugleich zur Langen Nacht der Neuen Musik, im November steht eine pädagogische Projektwoche auf dem Programm. Und für 2009 planen die Organisatoren zusammen mit Martin Steidler, Passauer Dirigent und Chordirektor der Tiroler Festspiele in Erl, einen Schwerpunkt für zeitgenössische Vokalmusik: Nicht nur eine erneute Erweiterung des musikalischen Spektrums, sondern bei der regen Chorlandschaft in der Region auch ein Garant für volle Konzertsäle.

Es ist in der Tat schon jetzt einiges in Bewegung geraten in Ostbayerns Musikszene. „Alles im Fluss“ hat hart gekämpft – und gewonnen.

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