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Hilary Hahn. Foto: Mareike Foecking
Hilary Hahn. Foto: Mareike Foecking
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Die zeitliche Begrenztheit von Fahrstuhl-Begegnungen

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Geigerin Hilary Hahn hat 27 „Encores“ in Auftrag gegeben und eingespielt
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Zugaben haben ihren eigenen Charakter. Die Weltklasse-Geigerin Hilary Hahn spricht hier von einem „Fahrstuhl-Effekt“. Will sagen: Die Beziehung zwischen Musik, Interpret und Publikum muss in einer ganz eng begrenzten Zeitspanne aufgebaut werden. Also lebt in der Zugabe ein stark verdichteter Zustand des Aufeinander-Bezogenseins – ohne Vorgeschichte und ohne Konsequenzen. Da nach Hilary Hahns Ermessen gar nicht so viele Musikstücke dieses Kriterium erfüllen, wurde sie aktiv und ließ sich 27 „Encores“ direkt auf den Leib komponieren.

Hilary Hahn wäre nicht die weltweit gefeierte Interpretin und eine der besten Violinistinnen der Welt, wenn aus diesem Anliegen nicht sofort ein globales Projekt geworden wäre. Quer über den Erdball verteilt, wurden die beauftragten Komponisten aktiv. Wer nicht gerade für ein Treffen im heimischen New York zur Verfügung stand, denen schickte die fleißige Networkerin ein paar Audiofiles von Probenmitschnitten. Der Schöpfer des letzten Stückes auf der im März bei der Deutschen Grammophon erscheinenden CD, Max Richter, wurde (als einer unter etlichen hundert Einsendern) per Wettbewerb ermittelt.

Hellwach am späten Abend nach einem Auftritt in Tokyo gibt die 33-Jährige so manche Innenansicht in ihren eigenen Berufsalltag. Habe sie etwa gerade einen Koloss wie das Sibelius-Violinkonzert bewältigt, kann sie sich für die Zugabe einfach zurücklehnen: „Meine Anspannung ist zu diesem Zeitpunkt völlig weg. Ich bin warmgespielt und die Kommunikation mit dem Publikum läuft. Ich habe schon alles gegeben. Was jetzt noch kommt, geht wie von selbst. Damit jetzt noch ein starkes Erlebnis oder gar eine Steigerung kommt, muss das Zugabenstück in wenigen Minuten eine kurze, eindringliche Geschichte erzählen.“

Hilary Hahn hatte auf Empfehlungen gehört und sich schließlich als Duopartner am Klavier für Cory Smythe entschieden. Und der konnte sein Glück kaum fassen. „Wir haben in einem rasanten Arbeitstempo die neuen Stücke erforscht. Es war ein großes Abenteuer, sich spontan auf das Material einzulassen. Der Austausch mit den Komponisten ging ständig weiter. Manche von ihnen hatten ganz exakte Vorstellungen, wie ich eine bestimmte Note zu spielen hätte – andere appellierten gerade an meine eigene Freiheit“, beschreibt Hilary Hahn die Pluralität der Ansätze. In wie vielen musikalischen Sprachen diese „Geschichten“ funktionieren, hat Hilary Hahn dann selbst erstaunt, als ihr die fertigen 27 Notentexte vorlagen: „Neue Kompositionen zu erarbeiten, die eben noch keinen Platz im Repertoire haben, ist ähnlich wie das Lernen der Grammatik einer neuen Sprache.“ 27 mal glüht unter den Händen dieser Geigerin eine extrem virtuose und emotional zupackende Kammermusik. Deren Rasanz und Impulsivität wird durch das temperamentvolle Zusammenspiel von Hilary Hahn und Cory Smythe noch gehörig gesteigert.

Die Konzertsaal-Kompatibilität über-wiegt hier eindeutig gegenüber dem Willen zur neutönerischen Avantgarde. Den oft schwindelerregenden Drive vieler Stücke im Zwei- bis Sechsminutenformat bezeichnet Hilary Hahn gerne als Perpetuum Mobile. Trotzdem dominiert nicht ausschließlich das halsbrecherische Tempo auf dieser Produktion. Es darf auch mal ein traurig hingehauchter Gesang oder eine sphärische Klangmeditation sein – etwa in der Kompostion „Bifu‘“ des japanischen Komponisten Somei Satoh. Das Duo beherrscht auch sämtliche Tugenden, auf minimalistischem Wege „Sound“ zu machen und dafür geben diese neuen Kompositionen ebenfalls Gelegenheit. Manchmal ist die Rollenverteilung zwischen den beiden umgepolt, wenn etwa in David Langs Stück „Light Moving“ der Pianist das Geschehen dominiert. Elemente aus Folk und Bluegrass kommen auch ins Spiel – etwa im Stück „Ford’s Farm“ von Mason Bates. Und wenn Hilary Hahn so weltumspannend unterwegs ist, darf natürlich eine Zwischenstation nicht fehlen, die gewissermaßen direkt vor ihrer Haustür liegt: Elliott Sharp hat in seinem Stück „Storm of the Eye“ die Ideenwelt der New Yorker Downtown Avantgarde auf das extreme Potenzial der Geigerin fokussiert.

Wenn sie Mendelssohn musiziert, ist man berührt über so viel Innigkeit, die von einer einzigen schwingenden Saite ausgehen kann. Im Gegenzug synchronisiert sie das Spiel auf ihrer Guarneri mit den brachialen Texas-Rockern „And you will know us by the Trail of Death“. Aus der klanglichen Reibung mit dem Elektronik-Avantgardist Hauschka ging eine fragile Poesie hervor. Bei einer solchen Bandbreite ist es nur konsequent, wenn sich jetzt viele Komponisten der Gegenwart aktiv und produktiv auf die Geigerin einlassen. Hilary Hahn selbst sieht diese 27 Stücke keineswegs nur im funktionalen Rahmen einer Zugabe. Und auch andere Interpreten dürfen und sollen sie natürlich spielen. Wenn sie es können…

In 27 Pieces. The Hilary Hahn Encores. Hilary Hahn, Violine, Cory Smythe, Klavier. Deutsche Grammophon (Universal). Erscheinungstermin: 7. März.

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