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Diese Sonne brennnt der Sonne entgegen

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Premierenproduktion „Fonds Experimentelles Musiktheater“ in Gelsenkirchen
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Beklemmend das Ende. Vierzehn Gesangssolisten, die sich aus dem Bühnenhintergrund lösen, nach vorn treten und eine Nähe herstellen wie sie dem Kleinen Haus am MIR, dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier per architectonem eingeschrieben ist. Unprätentiös, unmittelbar, unverstellt. So sollte es zugehen an einem der spektakulärsten Theaterbauten der Nachkriegszeit, konzipiert und realisiert vor beinahe einem halben Jahrhundert von Werner Ruhnau. Anlässlich dessen 80. Geburtstages ist im MIR jetzt eine Ausstellung zum Lebenswerk des Architekten zu sehen. Vergangenheit, die beerbt sein will. Etwa in dem Sinn, dass die Akteure an der Rampe auf die Knie gehen, um ein verzweifeltes Trommeln mit den Fäusten zu entfesseln, den Theaterboden Dröhnen machen.

Es ist dieses Schlussbild, mit dem der junge Regisseur Michael von zur Mühlen seine spielfreudig-verspielten Tändeleien unterbricht und an die Intimität wie Intensität einer Experimentierbühne erinnert wie sie Carla Henius unter der hellwachen Intendanz Claus Leiningers in den 70er-Jahren etabliert hatte.<br /> An solches künstlerische, nicht von ungefähr auch politische Brennen jener Jahre versucht die erste Produktion des von NRW KULTURsekretariat und Kunststiftung NRW ausgelobten „Fonds Experimentelles Musiktheater“ anzuschließen. „Der Sonne entgegen“ nennt die italienische Komponistin Lucia Ronchetti ihr sich dramatisch verstehendes Musiktheater auf die Schockwellen der Globalisierung: Armutsflucht, Tourismustristesse, Umweltkatastrophen. „Diese Sonne brennt der Sonne entgegen“, heißt es im desillusionierten Schlussgesang. Keine Frage: „Eine Oper zum Klimawandel, auch zum Utopieverlust im dritten Millenium. Der Sonnenkollektor – Sonnensegel“, umschreibt es poetisch Textdichterin Steffi Hensel –, bedeutet bekanntlich, dass die „Sehnsucht nach dem Paradies“ nicht ist, sondern war. Es ist die enttäuschte Hoffnung, der ernüchterte Realismus, aus dem diese erste Produktion des „Fonds Experimentelles Musiktheater“ ihre Triebkraft bezieht.

Nicht, dass sich Christian Esch als Apostel eines Theaters verstehen würde, das alles anders, alles neu zu machen beanspruchte. Der NRW KULTURsekretariats-Geschäftsführer will mit dem 2005 eingerichteten Fonds anschließen, will aufgreifen, was schon einmal war, was (nicht nur am MIR) abgebrochen, außer Sicht- und Reichweite geraten ist. Zugleich sei der Lethargie abzuhelfen, in die das Vorgängerprojekt abgedriftet ist. Anders als der „Fonds Neues Musiktheater“, der von den Häusern selbst beansprucht wird (oder eben auch nicht), sind nun die wahren Theaterproduzenten aufgerufen: Komponist, Librettist, Regisseur.

Eine prominent besetzte Jury sondiert die Eingänge, versteht sich als Transmissionsriemen einer Erneuerung des Theaters aus der Theaterutopie. Intendiert ist deshalb auch nicht Nachwuchsförderung im eigentlichen Sinn. Bewerbungen um die 80.000 Euro-Zuschüsse je Produktion unterliegen keiner Altersbeschränkung. Was zählt, ist der in einem überzeugenden Entwurf sich manifestierende Wille eines Teams der Willigen. Wie in den goldenen Theaterjahren der 20er-Jahre oder auch des ausgehenden 18. Jahrhunderts, setzt der „Fonds Experimentelles Musiktheater“ auf die Kraft künstlerischer Arbeitsgemeinschaften: Mit den Initiativen aus Textdichter, Tonsetzer, Theaterregisseur gegen die institutionalisierte Risikoscheu im real existierenden Stadttheater und den an Auslastungsziffern klebenden Intendanten. Überhaupt sei es die Idee der Zeitoper, deren Potential Christian Esch noch ebensowenig ausgeschöpft sieht wie ihm ein neues Selbstverständnis des Komponisten angezeigt scheint. Ferner stünde an, ein anderes Verhältnis zur Sprache zu finden. Jenseits von Textverständlichkeit, von Funktionalität zur Musik wie in der klassischen Literaturoper, gehe es auch hier um Emanzipation von mehr oder weniger schlechten Gewohnheiten.

Daran gemessen, hinterließ die Premierenproduktion einen eher erratischen Eindruck. So sehr die Komponistin beeindruckend zwischen den Stilen, Zeiten und Genres jonglierte, Liveelektronik- und Bläser-Klangteppiche zu Madrigal-, Verdi- und Sciarrino-Adaptionen mischte, so sehr fragte man nach der eigenen Handschrift darin. Mäandernd auch das von Steffi Hensel kreierte Textgebirge, dessen über weite Strecken ergoogelte Entstehungsgeschichte sich die Regie nicht abzutragen getraute. An den glänzend disponierten, auch schauspielerisch überzeugenden vierzehn Gesangssolisten gebrach es dieser Inszenierung jedenfalls ebensowenig wie an den unter Dirigent Askan Geisler einfühlsam und präzise mitmusizierenden Blechbläsern des Landesensembles Musikfabrik. Neues vom „Fonds Experimentelles Musiktheater“ ist versprochen fürs Frühjahr 2008.

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