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Ein Koloß aus einem anderen Zeitalter

Untertitel
Ein Plädoyer für Jean Sibelius · Von Dietmar Holland
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Der finnische Komponist Jean Sibelius hat es offensichtlich immer noch nötig, in breiteren Musikerkreisen verteidigt zu werden. Sein vierzigster Todestag am 20. September dieses Jahres ist so gut wie spurlos an den Medien vorbeigegangen, und seine vielschichtige Musikepoche ist ohnehin derart eigenwillig, daß sie es schwer hat, ins allgemeine musikalische Bewußtsein zu dringen. Und das ist kein Zufall: Während wenigstens ein Teil der Symphonien (vor allem die zweite und fünfte) und das Violinkonzert beim Konzertpublikum ankommen, wie man so sagt, steht es schlecht um die entlegeneren Werkbereiche, wie zum Beispiel die Lieder, sei es mit Klavier, sei es mit Orchesterbegleitung. Das Orchesterlied „Herbstabend“ op. 38 Nr. 1 etwa ist nicht nur eines der schönsten Lieder von Sibelius überhaupt, sondern auch eines der für ihn typischsten. Das Gedicht des schwedischen Dichters Viktor Rydberg muß Sibelius besonders angesprochen haben, enthält es doch genau jene pantheistische Weltanschauung, die auch diejenige des finnischen Komponisten war. Aus Rapallo schrieb Sibelius einmal die Worte: „Die Sonne geht unter, und die Wolken wandern mit Schmerzen im Sinne.“ Während sich diese Wolken auf die mediterrane Landschaft beziehen, sind die Wolken des 1903 komponierten Liedes ganz nordische: Es handelt sieh hier um einen wehmütigen Abschied. Energetische Prozesse Ein einsamer Wanderer war auch Sibelius, zuletzt sogar ein Einsiedler in den finnischen Wäldern, der nicht einmal mehr komponieren mochte (oder konnte). Er war aber vor allem eine Ausnahmeerscheinung in der Musik der Jahrhundertwende, weil er in ganz wesentlichen Zügen seiner Musik die moderne Entwicklung der deutsch-österreichischen Symphonik umgangen hat. Das bekannte Verdikt, das Ende der 30er Jahre Theodor W. Adorno (nicht zuletzt aus kulturpolitischen Gründen) über Sibelius gefällt hat, trifft im Grunde nicht das Wesen seiner Musik, denn es war gerade nicht die thematisch-motivische Arbeit der symphonischen und kammermusikalischen Tradition, der deutsch-österreichischen Musik, die ihn interessierte, sondern vielmehr eine neuartige Musiksprache, die ihre Kräfte aus gewissermaßen energetischen Prozessen bezieht, weniger aus festgefügten Themen und deren logisch-diskursiver Verarbeitung. Darin ähnelt sie ein wenig der ebenfalls in kein musikhistorisches Raster passenden Musik Anton Bruckners, dessen Symphonien – insbesondere die fünfte – Sibelius bezeichnenderweise in einer Zeit bereits bewundert und geliebt hat, als das noch keineswegs selbstverständlich war. Daß sich der junge Sibelius um 1890 in Wien aufgehalten hat, als also Bruckner dort noch lebte, ist eher eine musikgeschichtliche Kuriosität, denn das Mekka der Musik machte auf ihn keinen besonderen Eindruck. Noch bevor er Wien verließ, notierte er sich den Einleitungsgedanken zu der großen Tondichtung „Kullervo“, benannt nach dem tragischen Helden des finnischen Nationalepos „Kalevala“, das für Sibelius eine Inspirationsquelle ersten Ranges war. Der 25jährige Komponist entwarf dann in relativ kurzer Zeit eine fünfsätzige symphonische Dichtung, in der Kullervos Leben und Sterben geschildert wird, und zwar außer im Orchester auch durch das Hinzutreten von Chor und Gesangssolisten. Nach der Uraufführung am 28. April 1892 in der Aula der Universität von Helsinki, die im übrigen ein sehr großer Erfolg war, zog Sibelius die Partitur zurück und ließ sie bis zu seinem Tod (1957) niemals mehr komplett aufführen. Erst ein Jahr nach seinem Tod kam es wieder zu einer Gesamtaufführung des Werkes. Bereits in den ersten Takten der rein instrumentalen Introduktion, in der ein musikalisches Porträt des Titelhelden entworfen wird, hört man nicht nur den Geist der Musik Bruckners, sondern eine ganz eigene, unverwechselbare musikalische Stimme, die ebenso fremdartig wie bezwingend wirkt. Abseits der Moderne Die Krise der Tonalität freilich hat bei Sibelius – und auch das machte ihm natürlich Adorno zum Vorwurf – kaum nennenswerte Spuren hinterlassen. Er war wohl zu weit weg, und zwar nicht nur räumlich, um Arnold Schönbergs spektakulären Schritt über den Rubikon hin zur freien „Atonalität“ und später zur sogenannten Zwölftontechnik mitvollziehen zu können. Dabei war Sibelius auch nicht einfach nur ein musikalischer Spätromantiker. Der Gedanke ist keineswegs abwegig, daß Sibelius seine letzten dreißig Lebensjahre ohne Komponieren verbracht haben könnte – jedenfalls hat er nichts mehr aufgeführt oder veröffentlicht –, weil er mit der Entwicklung der musikalischen Moderne im Grunde nichts zu tun haben wollte. Aber war er deswegen gleich ein Traditionalist, womöglich ein musikalischer Reaktionär? Die eigenwillige Komplexität seiner Musiksprache spricht eigentlich dagegen, und vor allem auch die Vielfalt der musikalischen Gattungen, in denen er sich äußerst eigenständig und phantasievoll zu bewegen verstand. Wer hätte denn gewußt, daß er auch Klaviermusik geschrieben hat, wenn nicht der Exzentriker Glenn Gould im Jahr 1977 als passionierter Sibelius-Anhänger anläßlich des zwanzigsten Todestages einiges davon eingespielt und nachdrücklich propagiert hätte? In seinem Plattencover-Text schrieb der kanadische Pianist seinerzeit, die Klavierwerke von Sibelius seien gekennzeichnet durch eine sparsame, freudlose, in ihren Motiven zurückhaltende Kontrapunktik, wie sie niemand südlich des Baltikums hätte schreiben können. Der Symphoniker Sibelius ist, zumindest was die Präsenz der zweiten und fünften Symphonie auch in unseren Konzertsälen betrifft, ein relativ bekannter Name, doch was den Symphoniker Sibelius wirklich ausmacht, das bleibt immer noch ziemlich unerkannt. Werke wie die sechste Symphonie oder gar die Bühnenmusiken (darunter „Der Sturm“ op. 109) fristen ein völlig unverdientes Schattendasein, und das ungeachtet der Tatsache, daß sie bedeutende Schönheiten enthalten. Sibelius ist unter das leichtfertige Etikett eines zurückgebliebenen Komponisten nicht einfach zu subsumieren. Man muß sich auf seine Musik ernsthaft einlassen, um Gewinn an ihrem inhaltlichen Reichtum zu haben und ihre spröde, eindrucksvolle Schönheit erfassen zu können. Da trifft man dann auch auf solche Abwege, wie sie Sibelius in seiner vierten Symphonie, besonders im ersten Satz, auskomponiert hat: Die Symphonie entstand um 1911, also in jener Krisenzeit, die in Wien durch Schönberg zu neuen klanglichen Ufern geführt hat. Es scheint, als seien Schatten davon auch bis zur vierten Symphonie von Sibelius vorgedrungen; jedenfalls geht Sibelius hier in geradezu erschreckender Weise über alles das hinaus, was er bislang musikalisch gewagt hat. Konstitutive Bedeutung für die gesamte Symphonie gewinnt der Tritonus, der alte „diabolus in musica“, der der Tonalität ans Leben geht und überdies Abgründe aufreißt, die kühne und neuartige harmonische und melodische Bildungen ermöglichen. Das eher assoziative als „logisch“-stringente Komponieren von Sibelius kann sich gerade unter solchen Umständen besonders deutlich entfalten, und so fährt ein Satz wie der Kopfsatz der vierten Symphonie sinnierend, ja grübelnd an gähnenden Abgründen entlang, gegen die sich immer wieder – wenn auch vergeblich – fanfarenartige Rufe zu behaupten versuchen. Diese Musik klingt wie ein Psychogramm, wie ein Alptraum, und sie ist darin dem Expressionismus Schönbergs gar nicht so fern, wie die Gegner von Sibelius es immer behaupten, sondern durchaus sehr nahe. Wie ein Musiker vom Range eines René Leibowitz sich noch 1955 hat zu der Bemerkung hinreißen lassen können, Sibelius sei der „schlechteste“ Komponist der Welt, ist angesichts eines so beunruhigenden Werkes wie der vierten Symphonie schlichtweg unverständlich. Facetten ins Weite Aber es gibt noch einen ganz anderen Sibelius zu entdecken, wenn man sich der merkwürdigerweise im Konzertbetrieb völlig unterbelichteten sechsten Symphonie in d-Moll op. 104 nähert. Bereits die Tonartbezeichnung ist nicht ganz zutreffend, bedient sich doch Sibelius hier ausdrücklich der reizvollen klanglichen Mittel der Modalität, also der älteren, ohne Leitton auskommenden Kirchentonarten, um den schwebenden Grundcharakter erreichen zu können, der ihm für die sechste Symphonie offensichtlich im Ohr lag. Damit rückt er plötzlich und unerwartet in die stilistische Nähe der Musik Debussys und vor allem Ravels, und er bereichert seine ohnehin vielschichtige Musiksprache um eine weitere, überraschende Facette. In jeder seiner sieben Symphonien – eine achte soll er zwar komponiert, aber vernichtet haben – hat er, als genuiner Symphoniker, neue Lösungen für den Aufbau des symphonischen Zyklus gefunden, sich also niemals wiederholt oder sich gar auf bewährte Formmodelle verlassen. In den Mittelsätzen der sechsten Symphonie unterwirft er die Motive einem differenzierten, lichten und schwerelosen Farbenspiel: Im zweiten Satz ist es eine melancholische Melodie, die in immer neuen Varianten erklingt und insgesamt ein Naturbild evoziert, etwa den Gesang von Vögeln assoziieren läßt, und im dritten, scherzartigen Satz wird das Klangbild einer Jagd angestrebt, einer Jagd freilich in historischer Ferne. Der virtuose, transparente Orchestersatz und die modale Harmonik erwecken hier diesen Eindruck. Sibelius war – sein Violinkonzert beweist es in jedem Takt – selbst ein hervorragender Geiger, und so ist es auch nicht verwunderlich, daß er zahlreiche, weitgehend unbekannte Kammermusikwerke geschrieben hat, von denen jedoch nur das d-Moll-Streichquartett aus dem Jahr 1909 bislang weitere Verbreitung finden konnte. Es war zwar nicht das erste Streichquartett, das er komponiert hat, aber es ist sicherlich sein ambitioniertestes. Bereits der seltsame Titel „Voces intimae“ verweist auf den Blick nach Innen, der hier anvisiert wird, wenn auch – wie der eher robuste Finalsatz zeigt – der zupackende, dramatische Gestus nicht fehlt. Es war der Pianist Glenn Gould, der auch mit Worten schon früh für die Musik von Sibelius eingetreten ist, vielleicht deshalb, weil sie seiner eigenen Idee des Nordens als Lebensgefühl so nahe stand. Vor allem die fünfte Symphonie gehörte zu seinen Lieblingsstücken, seit er sie im Mai 1957 bei seinem Berliner Debutkonzert unter Herbert von Karajan, einem Vorkämpfer der Symphonik von Sibelius, gehört hatte. In gewisser Hinsicht stellt Karajans Aufnahme der fünften Symphonie eine Ehrenrettung für Sibelius dar in einer Zeit, als das unter großen Dirigenten noch keineswegs üblich war. Die elementare Kraft der Musik von Sibelius war für ihn das Zeichen eines im Grunde singulären Komponisten, der, einem Findling gleich, wie ein Koloß aus einem anderen Zeitalter in die Gegenwart rage; niemand wisse, woher er eigentlich komme.

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