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Erbe – Vielfalt – Zukunft

Untertitel
Eine UNESCO-Konvention als Leitlinie für musikalische Bildung
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Im Rahmen der fünf vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg veranstalteten Symposien zur Zukunft der Musikhochschulen hielt VdM-Vorsitzender Ulrich Rademacher Anfang April in Trossingen einen Vortrag über das Thema „Musikalische Bildung“. Wir drucken den Text an dieser Stelle in Auszügen ab. Ich möchte das Thema musikalische Bildung einmal an einem immer noch zu wenig beachteten Leitbild messen, dem Leitbild der UNESCO-Konvention „cultural diversity“, einem Leitbild, das meist fälschlicherweise darauf reduziert wird, dass wir jetzt beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ die türkische Baglama als Kategorie aufnehmen sollen, oder dass in den Musikschulen Tabla, Oud, afrikanisches oder koreanisches Trommeln, Bajan, Balalaika oder Bouzouki gelehrt werden soll. In Wirklichkeit ist die Konvention auf drei gewichtige Säulen gebaut, die gemeinsam, gleich gewichtet und aufeinander aufbauend eine Leitlinie für den Entwurf eines Angebots-Portfolios sein können. Die drei Säulen sind die Pflege unseres musikalischen Erbes, die Förderung zeitgenössischer künstlerischer Ausdrucksformen und schließlich die Wertschätzung und Förderung kultureller Vielfalt.

Im Folgenden möchte ich mögliche Konsequenzen für die musikalische Bildung anhand dieser drei Säulen aus meiner Verantwortung als VdM-Vorsitzender und meiner Sicht als Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrats skizzieren. Daraus können sich eindeutige Handlungsaufträge für Musikschulen, Musikhochschulen und ihre Träger, die Länder und Kommunen ergeben.

Erbe

Rund ein Viertel aller professionellen Orchester weltweit sind in Deutschland zuhause. Die deutsche Orches-terlandschaft ist in ihrer Vielfalt und Professionalität weltweit einzigartig und trägt in hohem Maße zur internationalen Reputation Deutschlands als Kulturland sowie zur kulturellen Identität der Bürgerinnen und Bürger bei. Allein in den letzten 20 Jahren sind aber 37 der ehemals 168 Orchester verschwunden. Orchesterauflösungen und Fusionen haben noch 131 Orchester übrig gelassen, weitere sind in ihrer Existenz akut bedroht

Wir müssen als Künstler, Wissenschaftler und Pädagogen unsere abendländische Musikkultur immer wieder neu begreifen: wissend, hörend, fühlend, verstehend, vor allem musizierend. Auch in ihrer Entwicklung von einem ursprünglich unendlichen melodischen und rhythmischen Reichtum hin zu einem unendlichen Farbenreichtum des Orchesters … Das gesamte Spektrum der Orchesterinstrumente, ein Hochschulorchester und ein Hochschulchor sollten zur Grundausstattung einer Musikhochschule gehören: und zwar als Praxisfeld für zukünftige Orchestermusiker und als Trainingsmöglichkeit für Solopositionen genauso wie als die einzige Möglichkeit für alle zukünftigen Pädagogen oder Wissenschaftler, aktiv musizierend an einer Aufführung zentraler Werke unserer Musikkultur, den großen Oratorien, Opern und Sinfonien, mitzuwirken. Solche Erlebnisse während des Studiums sind durch nichts zu ersetzten, am wenigsten für diejenigen elementaren Musikpädagogen oder Instrumental- und Vokalpädagogen, die in ihrer späteren Berufspraxis oft genug darauf verzichten müssen, die aber andererseits vom ganzen Reichtum unseres musikalischen Erbes beseelt sein müssen, um Kinder mit Begeisterung auf ihren ersten Schritten in die Wunderwelt der Musik zu begleiten.

Um unser musikalisches Erbe lebendig zu erhalten, bedarf es auch neuer Wege der Vermittlung, etwa in einer Konzert- und Musiktheaterpädagogik, in Präsentationsformen, die von Jugendlichen selbst mitentwickelt und gestaltet werden. Dazu gehört auch die kompetente und kreative Nutzung neuer Medien. Es bedarf regionaler Netzwerke von Musikschulen und Musikhochschulen, in denen begabte Kinder und Jugendliche gemeinsam auf ein Hochschulstudium vorbereitet werden. Es bedarf gemeinsamer pädagogischer Labore von Musikschulen und Musikhochschulen, in denen die klassischen Meister-Schüler-, Lehr- und Lern-Konstellationen ergänzt – vielleicht manchmal auch ersetzt – werden durch partizipative Elemente, durch voneinander Lernen, betreutes Üben, durch eine neue inklusive Sicht auf die Arbeit mit heterogenen Gruppen. Zu unserem musikalischen Erbe gehört auch die Magie des Augenblicks, das Live-Erlebnis eines Konzertes oder die selbst gespielte und gesungene Musik. Nur wer in Kindheit und Jugend erlebt hat, wie viel tiefer „live“ und „selbstgemacht“ unter die Haut gehen, wird dafür Zeit und Mühe investieren. Die Pflege des musikalischen Erbes braucht also unsere ganze Kraft und zunächst einmal überraschend viel Innovation!

Vielfalt

Kulturelle Vielfalt als Schatz, als Reichtum zu begreifen, ist nicht selbstverständlich. Wir sollten uns aber darauf besinnen, dass Entscheidendes in der Entwicklung der Musik – auch unserer abendländischen – angestoßen wurde, gewachsen und aufgeblüht ist durch die Befruchtung mit Neuem, Fremdem, Unerhörtem. Seit Gründung des VdM war neben Vermittlung tradierter und aktueller Musikkultur die Förderung von Volk(s)musik und Folklore wichtiges Merkmal von Musikschularbeit. Ebenso fand die Wahrnehmung unterschiedlicher „Stilistiken“ und deren Umsetzung in der Musik anderer Länder und Regionen Eingang in Strukturplan, Lehrpläne und Fortbildung. Umgesetzt wurde dies dort, wo charismatische Pädagogen und Künstler dafür brannten, oder wo die Bevölkerungszusammensetzung vor Ort danach verlangte. Mehr und mehr wird das Thema kulturelle Vielfalt – auch in Zusammenhang mit dem neuen Ideal „Inklusion“ flächendeckend relevant. Die Situation in Deutschland ist heute durch einen großen Reichtum regional unterschiedlicher Musikkulturen geprägt; dies findet jedoch noch nicht genug Berücksichtigung im öffentlichen Musikleben. Das Wissen vom Wert gemeinsamen musikkulturellen Lebens für die Gesellschaft verlangt daher von den Musikschulen, die Vielfalt unserer Kultur darzustellen und sich gemeinsam mit Menschen aus anderen Kulturkreisen mit deren Kulturen zu befassen. Im Rahmen inklusiver Prozesse und barrierefreier Zugangsmöglichkeiten zur Musikschule müssen deren Angebote so gestaltet sein, dass sie grundsätzlich für alle Kinder und Jugendlichen offen und geeignet sind, unabhängig von sprachlichen, kulturellen, sozialen, geistigen und körperlichen Voraussetzungen.

Zukunft

Zukunft wird ermöglicht, wenn wir unsere Wurzeln kennen und verstehen und wenn wir die Gegenwart in allen ihren Ausdrucks- und Erscheinungsformen annehmen.

Zeitgenössische Musik kann einmal das sein, was wir unter neuer Musik mit großem „N“ verstehen. Ob priesterlich, intellektuell, sinnlich, experimentell, postmodern, akustisch oder elektronisch. Zeitgenössische Musiksprachen sind aber auch Pop, Rock, Jazz, sind Filmmusik und Musical und alle teils mit Elementen der Weltmusik angereicherten Mischformen. Zukünftige Pädagogen müssen sich in dieser Welt zuhause fühlen, nicht notwendigerweise als Spezialisten für alles, aber ohne zu fremdeln.

Daraus folgt, dass diese Stile in den Hochschulen überall so vertreten sein müssen, dass die theoretischen Grundlagen gelehrt und auch ausreichend künstlerische sowie pädagogische Praxisfelder vorgehalten werden. Gerade hier brauchen wir die Einheit von Improvisation, Komponieren, Spielen, Analysieren, Arrangieren und Präsentieren. Das Präsentieren von Neuer Musik wird erfreulicherweise mehr und mehr gelehrt, großen Nachholbedarf aber gibt es bei der Didaktik des Komponierens und Improvisierens. Zukunft bedeutet auch, das Ohr am Puls der Zeit zu haben, von und mit Jugendlichen zu lernen und zu experimentieren. Zu spüren, was ihre Leidenschaft weckt, für welche Musik, für welche Klänge, für welche Werte sich Jugendliche die Nächte um die Ohren schlagen.

Für die künstlerischen und mehr noch für die pädagogischen Studiengänge an den Hochschulen gilt: Keine Ghettoisierungen der Stile! Wir brauchen wenigstens, was die Grundlagen angeht, das gesamte Spektrum. Für den weiteren Aufstieg „Ad parnassum“ sollen die Studierenden dann gerne an einzelne, auf das jeweilige Fach spezialisierte Hochschulen gehen.

Eine Konsequenz aus meiner musikpädagogischen Erfahrung – eingeschlossen der kollektiven Erfahrung des VdM – lautet: Jede musikpädagogische Ausbildung braucht ein inspirierendes künstlerisches Umfeld und Anregungen aus der Vielfalt musikalischer Stile, Kulturen und Epochen. Ob im Pre-College oder einer JeKi-Klasse im Ruhrgebiet: Musikpädagogik braucht ein künstlerisches Aroma, ein künstlerisches Feuer! Nun also – in diesem Sinne – zu den Konsequenzen für die Hochschulen.

Konsequenzen für die Hochschulen

Aus dem Gesagten ergeben sich zusammengefasst folgende Konsequenzen: Für alle Hochschulen, die Pädagogen ausbilden, gehört der klassische Kanon der Orchesterinstrumente zur unverzichtbaren Grundausstattung, genauso Chor, Orchester, die Bereiche Elementare Musikpädagogik sowie Instrumental- und Vokalpädagogik. Dazu ein die Musik reflektierender Studiengang wie Schulmusik, Musikvermittlung oder Musikwissenschaft. Für eine spätere Berufspraxis als Musikpädagoge unverzichtbare Ergänzungsfächer sind zum Beispiel Tonsatz, Geschichte, Dirigieren (Ensembleleitung), Arrangieren, Improvisieren, Weltmusik, Popmusik, Kammermusik und Liedbegleitung sowie Grundkenntnisse und elementare Praxis in historisch informierter Aufführungspraxis.

Ausgebaute Schwerpunkte wie zum Beispiel Musiktheater, Kapellmeis-terausbildung, Kirchenmusik, Filmmusik, Popmusik, Weltmusik, Alte Musik et cetera braucht es sicher nicht an jeder Hochschule. Diese sollten sich landesweit zu einem vollständigen Ganzen zusammenfügen. Hier, und auch in der Frage, wie viele Professuren für gleiche Instrumente (zum Beispiel für Klavier) eine Hochschule für ihre internationale Attraktivität wirklich braucht, gibt es also durchaus Gestaltungspotential, ich sage bewusst nicht Spar-Potential.

Schließen möchte ich mit sechs Bitten und einer Selbstverpflichtung.

Sechs Bitten

  • Bitte nehmen Sie die Leidenschaft der jungen Menschen, ob künstlerisch, ob pädagogisch, ob wissenschaftlich, an, fördern und nutzen Sie sie.
  • Lassen Sie die Studierenden spüren (und das auch im Stellenplan!), dass künstlerische, pädagogische und wissenschaftliche Exzellenz Ihnen gleich viel bedeutet.
  • Ermöglichen Sie, dass künftige Pädagogen – auch und gerade die „elementaren“ – in einem künstlerischen Umfeld studieren können. Sie werden ein Pädagogenleben lang davon zehren.
  • Teilen Sie die Verantwortung für den hochbegabten Nachwuchs mit den Musikschulen Ihrer Region.
  • Nehmen Sie die Herausforderung an, leidenschaftliche Künstler und Pädagogen auszubilden, die sich auf ihren Beruf als erfolgreiche Musiker freuen. Dazu gehört auch, dass Sie den Studierenden ermöglichen, ihre berufliche Orientierung während des Studiums zu korrigieren oder anzupassen. Das spricht gegen „Ypsilon“ und für ein Leitermodell mit mindestens zwei Eingängen und mit vielen Sprossen und Ausgängen.
  • Es muss den Musikhochschulen gelingen, das Thema „Musik und Medien“ in sinnlicher, kluger und kreativorientierter Weise zu vermitteln und damit den Musikschulen zu erschließen. Sonst werden wir über kurz oder lang eine ganze Generation verlieren, den Brückenbau zwischen Klassik und Moderne versäumen und vor allem ein wichtiges, neues innovatives Feld für die musikalische Bildung entweder verpasst oder an andere abgegeben haben. Die Musikschulen warten auf spielerische und klangvolle E-Learning-Programme für den Theorie- und Wissensbereich bis hin zu Keyboardspiel, Komposition und Songwriting.

Selbstverpflichtung

Eine Selbstverpflichtung, welche die Musikschulen und ihr Dachverband sowie der Deutsche Musikrat sehr ernst nehmen: Entscheidend ist, dass wir Bund, Länder und Kommunen überzeugen müssen, den Absolventen der Musikhochschulen menschenwürdige, wertschätzende und attraktive Arbeitsplätze zu bieten. Nur so kann für Erbe, Vielfalt und Zukunft gekämpft und gearbeitet werden.

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