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Erinnerungen ohne jede Nostalgie

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Ein Mosaik: Rückschau auf ereignisreiche Jahre im Deutschen Musikschulorchester
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Sieben Jahre ist es her – genau am 1. September 1991 –, daß ich als Bildungsreferentin beim Verband deutscher Musikschulen einen neuen beruflichen Lebensabschnitt begann und mir dabei die Verantwortung für das Deutsche Musikschulorchester übertragen wurde. Ein halbes Jahr zuvor erst hatte der VdM die Trägerschaft dieses Elitejugendstreichorchesters aus Mu- sikschüler/-innen der ehemaligen DDR übernommen; das erste „gesamtdeutsche“ Probespiel hatte gerade Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen mit ihren jungen Kolleg/-innen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg und Berlin zusammengeführt.

Nun, im Jubiläumsjahr, liegt erstmals die Chronik der Jahre „davor“ vor mir – kein offizieller Gedenkband amtlichen Charakters, kein gedrucktes Archivmaterial, keine für die Öffentlichkeit aufbereitete Historie. Nein, es ist ein intimes Tagebuch, niedergeschrieben in krakeliger oder sorgfältiger Handschrift von mehreren aufeinanderfolgenden Generationen von Orchestermitgliedern nachts bei Kerzenschein in Jugendherbergszimmern, nach anstrengenden Probentagen, auf rumpelnden Zugheimfahrten... Fünf improvisierte, schon äußerlich bunte „Bücher“, denen unzählige Transporte im Gepäckrucksack anzusehen sind, lassen bei der Lektüre über zwei Jahrzehnte bewegter Orchestergeschichte an mir vorüberziehen. Die ersten Fotos aus den siebziger Jahren – wirklich schon aus einer anderen Zeit, in der ich selbst gerade das Alter der jüngsten der damaligen Orchestermitglieder erreicht hatte. Ganz vertraut und nahe aber der schriftliche Niederschlag des am Tage jeweils Erlebten: Glückliche Hochstimmung nach einem erfolgreichen Probenmarathon, erst recht nach einem gelungenen Konzert, Zerknirschung und Unzufriedenheit, wenn man einmal den hoch gesteckten eigenen Erwartungen nicht gerecht geworden war; Qual und Katzenjammer beim (stets viel zu frühen) morgendlichen Aufstehen – nur um am Abend das ganze Elend wieder vergessen zu haben und keinen Weg ins Bett zu finden. Kennenlernfeste, Tanz-, Faschings-, Spiele-, Kammermusik- und ganz besonders die Abschlußabende fordern schließlich den vollen Einsatz, damit es hinterher heißen kann: „Abend war ‚urst’– kaltes Büfett war toll – Stimmung war knorke – Brötchen waren kernig – Bowle war scharf – keiner war müde – Abend war lang – Stimmungsbarometer stieg kontinuierlich“ (1973). Auch die traditionellen „Taufen“ neuer Orchestermitglieder mit einem passenden „Künstlernamen“ brauchen natürlich die schützende Dunkelheit der Nacht. Glücklicherweise wiederholte sich das dramatische Ende einer solchen nächtlichen Aktivität – ein Abschiedsabend im Jahr 1989 – seither nicht mehr: „R.B. erlitt nach Abschluß des Abschlußabends, den sie wesentlich vorbereitet hatte, einen leichten Nervenzusammenbruch (?), Maßnahmen: Nachtruhe sichern“, heißt es da in den Notizen des damaligen Betreuers. Allerdings geschieht es immer einmal wieder, daß ein opferbereiter „Abgesandter“ den übrigen Zimmermitbewohnern morgens das Frühstück ans Bett servieren muß. Zum Aufräumen der Zimmer, die sich im Laufe der Woche problemlos in schönste Boheme verwandeln, bleibt natürlich vor Probenbeginn selten Zeit. Denn da heißt es dann „voll dasein“, ob Register- oder Tuttiprobe; Dozenten und Dirigent kennen zu Recht kein Pardon. „Meine Herren Kontrabässe, bitte sich nicht einschleichen...“ und an die Geigen: „Spielt die Achtel bitte genausofreundlich wie eure Konzertmeisterin“. „Begleiten ist genausowichtig wie die Melodie, nur schwieriger...“ „An dieser Stelle dann einfach den Arm nach oben fallen lassen!“ „Immer fest, aber schön locker spielen!“ Als Dirigent hat man schließlich gut reden... Mit Schmunzeln lese ich in der Chronik zwei „Gesamtprobenberichte“, im Abstand von fast sieben Jahren mit viel Selbstironie dokumentiert. Wer, wie ich, über Jahre Gelegenheit hatte, bei solchen Proben „Mäuschen“ zu spielen, weiß, welche Faszination von dieser gemeinsamen Arbeit ausgeht. Auf der einen Seite die gewissenhafte und liebevolle Hinwendung der Dozenten zum technischen und musikalischen Detail in den Gruppenproben, unverzichtbare Basis für alles Weitere. Hier kann sich keiner „ungeübt“ verstecken, hier gibt’s aber auch in vertrauensvollerAtmosphäre Rat und Hilfe bei individuellen Problemen (sei es auf dem lnstrument oder ganz „allgemein menschlich“), wird noch schnell in der Pause ein Cello oder Baß repariert, Studienberatung eingeholt... In den Gesamtproben dann wird das Mosaik zusammengesetzt, Freude, daß es schon beim ersten Mal „nach Musik“ klingt; doch der Feinschliff erfordert noch viel Geduld. Mit lebendiger Bildersprache und unermüdlichem Einsatz motiviert der Dirigent; auch hier sind die Dozenten meist dabei, um ihre Gruppen „auf den rechten Weg“ zu bringen und die musikalische Entwicklung im Tutti mitzuverfolgen. Die jugendlichen Musikerinnen und Musiker danken es mit konzentrierter Aufmerksamkeit, klaglosem Durchhalten, glücklichen Gesichtern, wenn etwas besonders gut gelingt, spielen sich „die Seele aus dem Leib“, auch ohne Publikum. Und schaffen es am Konzertabend, immer noch „eins draufzu- setzen“ – jeder Ton ist aus den Proben bekannt, hundertfach gehört und erklingt doch ganz neu mit Spannung erfüllt, weit entfernt von jeglicher langweiliger Routine. Daran hat sich von den Anfängen des RMO/DMO bis heute nichts geändert. Anderes gehört – glücklicherweise – der Vergangenheit an, so etwa ungeheizte Zimmer und kaltes Duschwasser trotz winterlicher Außentemperaturen, Verpflegung, die vor allem an Vitaminreichem zu wünschen übrigließ und ähnliches. Nur an wenigen Stellen der Chronik läßt sich so ein wenig Zeitgeschichte erfühlen. Besonders beeindruckend die Seiten, die sich der ersten Reise des Orchesters ins westliche Ausland widmen. Im Juli 1989, schon „unruhige“ Zeit, darf das Ensemble zum Europäischen Musikfest der Jugend ins französische Straßburg reisen. Wechselbad der Gefühle: Magenkribbeln beim Anblick der Grenze an einem kalten, nassen und nebligen Sommermorgen, bei langwierigen Paß- und Gesichtskontrollen und Zollerklärungen und in Gedanken an die bevorstehenden Erlebnisse; Aufatmen, Freude, die Fahrt geht wirklich weiter. Erstes neugieriges Betreten eines Autobahntankstellenshops mit seinem reichhaltigen und kostspieligen Warenangebot, ungewohntes Begrüßungsessen am Zielort mit Käse, Fleisch, Kartoffeln und Eis. Getrübt wird die Hochstimmung allerdings gleich durch einige weniger schöne Begebenheiten: Getränke zum Essen müssen selbst bezahlt werden (von welchem Geld eigentlich?), als einziges Orchester ist das (damals noch:) Rundfunk-Musikschulorchester isoliert, nicht mit Ensembles anderer Nationen, untergebracht, die erste Kontaktaufnahme mit Vertretern aus Spanien endet abrupt, sobald die Herkunft der Deutschen klar wird. Wie elend müssen sie sich gefühlt haben, auch wenn die Chronik scheinbar nebenbei von diesen Häßlichkeiten berichtet. Aber da gab es ja glücklicherweise vor allem die uneingeschränkt umjubelten Auftritte des RMO (Jetzt erst recht!) und den Beginn einer wunderbaren deutsch-deutschen Freundschaft mit einem gewissen ostfriesischen Orchester – auch wenn eine gemeinsame Probe durch ein schnell hinzugesetztes Pult mit zwei ungarischen Musikern als „europäisch“ getarnt werden mußte und private Treffen heimlich nachts zu erfolgen hatten... Im Oktober 1989 trifft man sich wieder – angespannte Atmosphäre, Sorge um die Familien daheim, Erleichterung, daß die Leipziger Montags-Demo erneut gewaltfrei abläuft. Ungewißheit, Zukunftsangst wird noch mehrere Monate auch die musikalischen Treffen dieser jungen Menschen überschatten, die gleichzeitig in ihrer Orchestergemeinschaft Halt, neuen Mut, Zuspruch finden. Antoine de Saint-Exupérys Geschichte vom „Kleinen Prinzen“ erhält dabei eine besondere, eigene Bedeutung. Dies alles ist nun schon wieder Jahre zurückliegende Geschichte. Naturgemäß ist keines der Orchestermitglieder, die diese Zeit miterlebten, mehr im DMO aktiv. Neue, andere Probleme beschäftigen die jungen Köpfe, deren Träger/-innen längst bunt gemischt aus allen Bundesländern Deutschlands zusammengewürfelt sind. Was bleibt (und hoffentlich immer bleiben wird), ist das herzliche Klima fröhlicher, tiefempfundener Freundschaft, dies intensive Zusammengehörigkeitsgefühl, Jubel beim Wiedersehen, Tränen beim Abschied, und über allem das lebensprägende Erlebnis unendlicher Freude an der Musik.

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