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Finden, bewahren, veröffentlichen, spielen

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Das Europäische Liedforum zu Gast bei Exilarte an der mdw Wien
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Die Teilnehmer*innen des Europäischen Liedforums waren Ende September auf Einladung von Markus Hadulla zu Gast an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) und informierten sich dort unter der sachkundigen Führung von Dr. Gerold Gruber über verfemte Komponist*innen und deren Musik.

Das von Studierenden der mdw gestaltete Eröffnungskonzert der Tagung brachte Lieder von Robert Fürstenthal, Julius Bürger, Gustav Lewi und Walter Arlen zu Gehör, deren Nachlässe im Forschungszentrum Exilarte an der mdw archiviert sind. Dessen Leiter Dr. Gruber eröffnete das Konzert mit einem Vortrag, der den Zuhörenden die Werke ebenso nahebrachte wie die Lebensschicksale ihrer Urheber*innen. Wie er im Gespräch mit der nmz betonte, ist das Ziel „aktiv an die Öffentlichkeit zu treten, indem wir Ausstellungen, CDs, Konzerte, Symposien organisieren, damit das Material nicht einfach im Archiv ruht, sondern auch wirklich an die Öffentlichkeit gebracht wird.“ Mit dieser Intention gründete er 2006 den Verein Exilarte, der weltweit Kontakte zwischen Komponist*innen, Nachlass­geber*innen, Archiven, Veranstalter­*innen und Musiker*innen herstellte, um Nachlässe von Komponist*innen, die zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und deren Werke verfemt wurden, zu sichern und zu editieren, sowie Künstler*innen zu ermöglichen, diese Werke einzustudieren und sie einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Eine eigene CD- und Publikationsreihe sowie Konzerte in aller Welt belegen, wie umfassend dieses Ziel erreicht wurde. „Wir versuchen wirklich international, die Leute aufzufordern sich mit diesem Erbe auseinanderzusetzen“, so Gruber weiter, „das ist uns ganz wichtig.“

Zusammenarbeit Wien–Rostock

Musikstudierende können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, wirken sie doch in ihrer zukünftigen künstlerischen und pädagogischen Tätigkeit in die Gesellschaft und ihre nachfolgenden Generationen hinein. So nahmen die Teilnehmenden des Liedforums, die alle an europäischen Musikhochschulen und -universitäten lehren, das wieder zu entdeckende Repertoire aufmerksam entgegen. Eine enge personelle und inhaltliche Zusammenarbeit besteht zwischen Exilarte und dem Zentrum für verfemte Musik an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Mittels des internationalen Musikwettbewerbs Verfemte Musik in Schwerin sollen, so Gruber, „die jungen Musikerinnen und Musiker dazu angehalten werden, sich mit diesem Repertoire auseinanderzusetzen und wir vergeben dann immer auch einen Exilarte Preis, dessen Gewinner*innen für ein Konzert nach Wien eingeladen werden.“

Nachdem Exilarte 2016 als Forschungszentrum an die mdw angeglie­dert wurde, kamen zur Organisation von Konzerten und Vorträgen regelmäßige Lehrveranstaltungen an der mdw sowie die wissenschaftliche Erschließung der nun im eigenen Archiv gelagerten Bestände hinzu. Darunter sind auch die Nachlässe der Komponistinnen Anita Bild und Gerty Landesberger, geb. Wolmut; zwei Raritäten, denn, wie Gruber betont, „wir versuchen natürlich immer wieder, an Nachlässe von Frauen heranzukommen, aber das ist viel schwerer, weil eben auch viele Rechtsnachfolger, also Söhne, Töchter, Enkelinnen und Enkel von den weiblichen Vorfahren leider nicht so viel halten wie von den männlichen Vorfahren. Das ist ein Faktum, das wir natürlich bekämpfen, aber das leider vorhanden ist.“ Ein sehr bedauerliches Faktum, entgeht den Nachlassnehmer*innen doch dadurch die Chance auf Veröffentlichung der Werke ihrer Vorfahrinnen durch renommierte Musikverlage.

Großangelegtes Editionsprojekt

Mit Vertragsabschluss im Sommer 2022 begann für Exilarte und dessen Leiter Dr. Gerold Gruber ein großangelegtes Editionsprojekt: An die 300 Werke aus Nach- und Vorlässen, die im Archiv von Exilarte lagern, werden in den nächsten Jahren vom Musikverlag Schirmer publiziert werden. Damit werden sie erstmals wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sein, womit sich die Zielsetzung Grubers „finden – bewahren – veröffentlichen – spielen – hören“ ein weiteres Mal erfüllt. „Durch die zwei Verlage sind wir jetzt wirklich weltweit vertreten, das ist phantastisch!“

Bei Boosey & Hawkes wird der 100 Werke umfassende Archivbestand des tschechischen Komponisten Hans Winterberg verlegt werden, der, ebenso wie Pavel Haas, Gideon Klein und Viktor Ullman im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert war. Der größte Teil seiner Werke befindet sich im Sudetendeutschen Musikinstitut in Regensburg, mit dem Exilarte in intensiven Verhandlungen steht, um auch den dortigen Nachlass Winterbergs sichten und wissenschaftlich erschließen zu können.

Die Gefahr der Opferrolle

Eine Gefahr der intensiven und fokussierten Förderung der Musik von diskriminierten Minderheiten, wie zum Beispiel derjenigen der unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgten Komponist*innen, liegt darin, dass die durch die Täter*innen erfolgte Zuschreibung einer Identität als Opfer durch die Förderer aufgegriffen und fortgesetzt wird. Heraus aus dem Ghetto Theresienstadt, hinein in das Ghetto der Förderlinien für verfemte Künstler*innen. Dazu Gruber: „Es ist richtig, wir nehmen diese Komponistinnen und Komponisten und geben sie sozusagen in eine Nische oder in ein Eck hinein, und eigentlich gehörten sie in den gesamten Repertoirebereich der Kultur und das ist natürlich unser Ziel.“ Deshalb initiiert Exilarte bewusst auch Veranstaltungen und Ausstellungen, die die im Archiv vertretenen Komponist*innen in andere biographische und musikalische Zusammenhänge stellen. Die Eröffnungsausstellung des Universitäts-Forschungszentrums rückte 2017 die Lehrerpersönlichkeiten Franz Schreker und Arnold Schönberg in den Mittelpunkt und thematisierte, inwieweit sie ihre Studierenden richtungsweisend geprägt haben. Arnold Schönberg und dessen Schüler und Assistenten Richard Hoffmann wird auch die ab Oktober 2023 zu besuchende Ausstellung gewidmet sein. So wird die großartige Musik dieser Menschen aus dem Ghetto des Vergessens wieder herausgeholt und, so Gruber, „wieder in die Kulturkette eingegliedert, so dass jedem klar ist, wo passt Hans Gál hinein, wo passt Julius Bürger hinein, wo passt der Wilhelm Grosz.“

Die Teilnehmer*innen des Europäischen Liedforums, die zum Abschluss der Tagung von Dr. Gerold Gruber durch die aktuelle Dauerausstellung des Exilarte-Zentrums geführt wurden, zeigten sich äußerst interessiert an den dortigen Exponaten. Über die Lebensgeschichte von Jan Urban gab es hier ebenso Neues zu erfahren wie über das humanitäre Wirken von Fritz Kreisler, dessen alter Geigenkasten in Wien ebenso zu besichtigen ist wie der Flügel von Emmy und Egon Wellesz.

„Zukunft braucht Herkunft“ ist ein Diktum von Odo Marquard – die von Exilarte ausgehende Auseinandersetzung mit Herkunft, die von Lehrenden und Künstler*innen weltweit fortgesetzt wird, trägt dazu bei, unsere musikalische Zukunft zu gestalten.

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