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Flachbild Deutschland

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Die Türen öffneten sich, die Zukunft wartete auf dem Berliner Messegelände. Nach zwei Sekunden hatte man die erste Messehalle visuell erfasst, nach vier Sekunden war man reizüberflutet, bereits nach zehn Sekunden kamen Kopfschmerzen hinzu. Tausende Flachbildschirme pflasterten Wände, Decken und Fußböden. Im Praxistest konnte man sich davon überzeugen, dass ein LCD doch besser ist als Plasmafernseher… oder war das umgekehrt? 16:9? 100:0 für die Hersteller – man kam, angesichts der Eingleisigkeit dieser IFA, aus dem Gähnen gar nicht mehr heraus.

Trotzdem: Mehr denn je scheint die Faszination für überflüssige Technik ungebremst zu sein. Die Fähigkeit, objektiv Sinn von Unsinn zu unterscheiden, schwindet angesichts eines Produktbreis, der jeden noch so erhärteten Zweifel aufweicht. Und so priesen alle Hersteller ihre Produkte, von denen keines wirklich innovativ war, als unverzichtbar an. Ganz unter uns: Alle Firmen wissen, dass es auf ein Endgerät hinausläuft, das alles kann. Technisch wäre das längst realisierbar. Bis dahin dürfen sich kommende Generationen auf Gerätemutationen wie Kinosessel mit Duftdrüse oder Lockenstäbe mit Wireless LAN freuen. Der Weg, der hier platt getreten wird, stammt nur leider aus dem letzten Jahrhundert. Kreative Impulse waren nicht zu sehen, oder verliefen sich in der Komplexität der Systeme.

Einiges führt die diesjährige IFA deutlich vor Augen: Wie sehr wir bereits auf der Suche nach Essentiellerem sind und wie schwierig es als Endbenutzer ist und wird, die immer abstrakteren Attacken und Kampagnen der Hersteller zu durchleuchten. Es wird klar, wie wenig wir die 90er-Jahre technisch überwunden haben und wie sehr Konzepte aus dem letzten Jahrzehnt den inhaltlichen Fortschritt überschatten, ja behindern.

Wir leben in den Anfängen von Technokratie. In einem Spagat zwischen Bewusstsein über die Sinnlosigkeit vieler Errungenschaften und der technischen Abhängigkeit, hervorgerufen durch Wirtschaft und Politik. Orientierungslos nehmen wir inzwischen die Kollateralschäden im Formatkampf gelassen hin. Unsere Kinder haben nur noch SMS-kompatible 500 Zeichen Platz ein Gespräch zu führen. Pädagogen sehen jedoch durchaus Positives in der Shortmessaging-Sucht unserer Schutzbefohlenen; „Esförderedochwiederdenwunschanachlesenundschreibenbeidenjugendlichen HDGDL” wurde kürzlich geäußert…

Die Frage ist, wie lange es noch dauern wird, bis nicht mehr wir den Inhalt und das Medium bestimmen, sondern das Medium, die Technik kulturell irreversible Schäden hinterlässt und die Gesellschaft entmenschlicht. Ein Technikboykott würde fehlschlagen, und so bleibt uns die Versöhnung mit der toten Materie – durchaus eine Möglichkeit. Wirtschaftlich ist dieses Hinauszögern von wichtigen Neuerungen sicherlich rentabel, und die Suche nach Ablenkung wird auch weiterhin andauern. Dass die Hersteller uns mit MP3-Spielern mit integrierter Kamera und portablen Fotolabors ihre eigene Überflüssigkeit vor Augen führen, ist ebenso absurd wie zynisch. Wir kaufen es ja doch, Virilio soll Recht behalten. Diese mobilen Zeitmaschinen dominieren schon lange unser Zusammenleben, gestalten und beschneiden unsere Kommunikation. Die Wege verkürzen sich, das Tempo zieht an.

Unsere persönliche Zeitersparnis kann uns jeder Mitarbeiter der Mobilfunkunternehmen vorrechnen. Die Grauen Herren sitzen an ihren Messeständen und paffen Stundenblumen. Momo, wo bist du?

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