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Moritz Eggert, „Bad Boy of Music“ der nmz. Foto: Martin Hufner
Moritz Eggert, „Bad Boy of Music“ der nmz. Foto: Martin Hufner
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Für eine Handvoll Tomaten – Der „Bad Boy Of Music“ lüftet sein Pseudonym

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Seien wir mal ernst. Diesmal werde ich als Bad Boy nicht das tun, was man erwartet. Keine Bonmots, keine Spitzen, keine Polemik. Stattdessen möchte ich erzählen, warum ich diese Kolumne begonnen habe und welche Idee dahinter stand.

Dieser Text ist auch eine Demaskierung des Bad Boys. Von Anfang an war geplant, den „Bad Boy“ genau ein Jahr unter Pseudonym zu veröffentlichen und dann – zum 50. Todesjahr des „echten“ Bad Boys of Music, dem unvergleichlichen George Antheil – seine Identität zu offenbaren. Ab jetzt wird also mein eigener Name unter diesen Zeilen stehen, und wer faule Tomaten werfen will, kann dies nun ganz direkt tun.

Grund für das Pseudonym war nicht Angst vor Enthüllung – mir war klar, dass sofort nach meinem ersten Text „Die Zukunft ist ungnädig“ einige raunende E-Mails die Runde machen würden. Damals – vor genau einem Jahr – machte ich mich über bestimmte Gedankengebäude der zeitgenössischen Musikkritik lustig. Dies nur zur Erinnerung für all diejenigen, die diese Persiflage zum „Pamphlet“ oder zur „Komponistenhetze“ aufblähten … was zu viel der zweifelhaften Ehre ist. Diese Aufmerksamkeit nahm ich aber gerne in Kauf, da sie auch den Blick auf die von mir angesprochenen Themen lenkte. Und die liegen mir nach wie vor am Herzen.

Warum also überhaupt ein Pseudonym?

Für mich war es eine Art Selbstdisziplinierung – das Pseudonym entfernt das Blatt des Skrupels vom Mund. Auf eigene Weise wollte ich an die Tradition früherer musikalischer Diskurse anknüpfen, bei denen man vielleicht noch nicht so sehr in den heutigen feuilletonistischen Bahnen gefangen war und sich auch anderer literarischer Formen wie der Satire oder freier Prosa bediente. Das war spannender zu lesen, war beseelter, hatte Witz, Schärfe und Ironie und vor allem Leidenschaft. Ich war es einfach leid, den für gewöhnlich eher larmoyanten und abgesicherten Äußerungen über Neue Musik weitere hinzuzufügen – mich interessierte es, eben NICHT vorsichtig zu sein, mich voll und ganz angreifbar zu machen.

Ich bin gottseidank nicht der Einzige, der so empfindet, und in letzter Zeit habe ich nicht nur in diesen Seiten hervorragende Texte anderer Autoren gelesen, die erfrischend anders sind. Es tut sich also was.

In Zeiten der Verunsicherung – und es gibt, glaube ich, keinen Zweifel daran, dass wir in solchen Zeiten leben – steigt die Gefahr der Behäbigkeit kritischer Artikulation. Vielleicht hat man es sich in einer Art gegenseitiger Duldung gemütlich eingerichtet und will Niemandem allzu nahe treten. Dies hat viel mit nachvollziehbaren Ängsten zu tun – man fühlt sich sicherer in einer Umgebung, die sich selbst bestätigt. Daher ist das Grundmantra der Diskussion in den letzten Jahren auch relativ gleich geblieben und kann kurz mit folgenden Thesen vereinfacht wiedergegeben werden:

1. Alles wird immer flacher und oberflächlicher, die Neue Musik hält dagegen.
2. Alle werden immer dümmer, die Neue Musik hält dagegen.
3. Warum wird Geld für XXX ausgegeben, wenn es auch für Neue Musik ausgegeben werden könnte?

Dieses erbärmliche Mantra polemisch zu unterlaufen war tatsächlich mein allererstes Ziel.

Natürlich ist es eine gefährliche und zwiespältige Sache, die Strukturen von innen heraus, quasi als Teil davon, zu kritisieren. So las ich über mich im letzten Jahr zweierlei – entweder ich sei ein frustrierter und gescheiterter Fuzzi, der aus Frust über fehlende Akzeptanz in der Szene die Klappe aufreißt, oder eben auch, wie unverantwortlich und gemein es von mir sei, als viel zu erfolgreicher und berühmter Gross-Mufti den Mund aufzumachen. Was nun davon stimmen soll, weiß ich auch nicht so genau.

Wie auch immer – es muss möglich sein, Mechanismen der Selbsttäuschung satirisch zu hinterfragen, gerade wenn man selber Teil dieser Mechanismen ist. Daher hilft es nichts, wenn man versucht, die Diskussion über die sinkende gesellschaftliche Relevanz von Neuer Musik als beendet und zu den Akten gelegt zu deklarieren. Man kann nicht auf der einen Seite einen irrsinnigen Aufwand betreiben, um Neue Musik zu vermitteln und am Leben zu erhalten und auf der anderen Seite so tun, als sei alles in Ordnung. Die Anstrengung ist zu spüren und entlarvt die Angst hinter der vorgetragenen Begeisterung über das gelungene Vorzeigekonzert.

Im Grunde treibt uns alle – Kritiker, Interpreten und eben auch Komponisten, wir sind ja alle im selben Boot – eines an: Die Sehnsucht nach einem anderen Ton, nach mehr Individualität, nach „etwas Neuem“ wächst, hierin sind sich auch verfeindete Lager einig. Und wenn es diesem Ton gelänge, auch wieder ein Publikum in die Konzerte zu locken, das wir nicht mehr vorher aufklärerisch indoktrinieren müssen, wäre dies sicherlich auch kein Schaden.

Mir ging es daher nie darum, Stile oder Schulen zu diffamieren, es gibt keine Schuldigen für mich. Es war faszinierend und manchmal auch traurig für mich zu sehen, wie viele sich dennoch direkt von mir angesprochen, direkt beleidigt fühlten, obwohl ihre Namen nie genannt wurden.

Was uns im Moment hauptsächlich zu schaffen macht, ist ein Generationenkonflikt, der unterschwellig in der Diskussion mitschwingt. Dieser Konflikt wird zum Teil geprägt von Veteranen vermeintlich aufregenderer Avantgarde-Zeiten, die zunehmend pampig die schwindende Allgemeingültigkeit ihrer eigenen Deutung eines möglichen musikalischen Kosmos’ beklagen, und der jungen Generation das vorwerfen, was man jungen Generationen eben so vorwirft, nämlich zu jung und zu dumm und generell unwürdig zu sein. Wäre dieser Vorwurf nicht so alt wie die Menschheit selber, hätte er vielleicht mehr Gewicht und würde nicht so langweilen. Es ist auch nichts Neues, dass man die jeweils selbst mitgestaltete Kunstepoche immer zu etwas hochstilisieren will, das nicht mehr zu übertreffen ist.

Die Jungen sind frecher geworden, keine Frage. Vielleicht sogar noch nicht frech genug. Dennoch – wenn schon ein paar Witze über gängige Neue-Musik-Klischees, wie sie zum Beispiel Arno Luecker in seinem übertrieben gescholtenen Darmstadt-Blog zu machen wagte, eine unglaublich leberwurstbeleidigte Diskussion verursachen, muss man sich nicht wundern, wenn weniger Mutige gar nicht erst den Mund aufmachen. Genau dafür wäre es aber jetzt der richtige Moment.

Mich erstaunt immer wieder die seltsame Doppelmoral, die diesen Rückzugsgefechten zugrunde liegt. Einerseits bezogen die Beleidigten selber einen Großteil ihrer eigenen künstlerischen Energie aus der Reibung an herrschenden Konventionen, nahmen selber den Mund sehr voll im Vergleich zu heutigen Äußerungen (die dagegen fast schüchtern wirken, wie Zitate aus früheren Diskussionen leicht beweisen), fallen aber jetzt aus allen Wolken, wenn es ihnen die Jungen nachmachen und sie plötzlich auch mal auf der anderen Seite der Kritik sind. Wer austeilte, sollte souveräner einstecken können als es jetzt der Fall ist. Dabei will die Kritik der Jungen ja nie das bisher musikalisch Geleistete heruntermachen, sondern einfach nur der unumstößlichen Tatsache Rechnung tragen, dass das Leben weitergeht und manch ursprünglich fruchtbare Ästhetik inzwischen zur Pose verkommen ist.

Eines ist gewiss, die Nachwelt hat immer Recht, das Recht auf eigene und neue Irrtümer ebenso wie das Recht auf eigene Entdeckungen und Erfolge. Wäre dies nicht so, würden wir heute noch über das Für und Wider von Quintparallelen diskutieren.

Der jungen Generation dieses grundsätzliche Recht abzusprechen – das wirkt selbstherrlich und selbstgerecht, und diesen Vorwurf müssen sich einige der hartnäckigsten Verfechter alter Denkmodelle sicherlich machen lassen. Warum so unsouverän?

Vielleicht gibt es aber für die Verkrampftheit einen Grund – denn zu den Hochzeiten der Avantgarde-Dogmatik gab es so viele unausgesprochene Verbote und Konventionen, dass das Komponieren tatsächlich eher zu einer Art Selbstkasteiung ausartete als eine freie künstlerische Tätigkeit zu sein. Wer sich sein Leben lang bestimmte Dinge wie zum Beispiel die simple Lust am Klang verbot – und Musik ist ja zweifellos nicht nur ein trockener intellektueller Prozess, sondern kann und will auch unhinterfragter Sinnesrausch sein – der gönnt sie auch den Jungen nicht. Die zölibatärsten Priester sind immer die schärfsten Gegner der Fleischeslust.

Jeder, der heutzutage als Komponist den schwierigen Spagat zwischen alter und neuer Tradition sowie deren Bewahrung und Neuerfindung ernsthaft versucht, weiß, dass das allein schon schwer genug ist, da muss nicht auch noch ein Großer Onkel seinen Zeigefinger heben. Trotz scheinbarer Freiheit und übergroßer Leichtfertigkeit gibt es immer noch Konventionen zuhauf, auch darüber muss man sprechen können, und ich habe es in dieser Kolumne versucht.

Von Ligeti stammt der schöne Satz: „Unterwerfe ich mich völlig den Konventionen, ist mein Produkt wertlos. Stehe ich außerhalb jeglicher Konventionen, ist es sinnlos.“ Wie kann also Wertvolles und Sinnvolles entstehen? Ein fast unmögliches Unterfangen, an dem wir uns alle, Alt und Jung, abarbeiten.

Viele glauben es mir nicht, aber auch ich liebe Neue Musik. Ich habe noch Hoffnung für sie.

Und gerade deswegen schreibe ich als Bad Boy. Ich wollte Reaktionen bekommen, zornige wie positive, sowie die Antwort auf die Frage, wo Neue Musik heute ist, und wo sie vielleicht in hundert Jahren sein könnte. Dazu gehört auch die Frage, WAS genau sie ist, und wo sie in unserer Gesellschaft steht. Denn jeder trägt – je nach persönlicher Prägung und Historie – seine eigene Neue Musik mit sich herum, und manchmal ist die eben auch klein geschrieben.

Diese Fragen beantwortet mir das Feuilleton schon lange nicht mehr, denn dort gibt es quasi zwei vollkommen getrennte musikalische Geschichtsschreibungen. Auf der einen Seite steht das, was wir mangels besserer Ausdrücke klassische oder zeitgenössische Musik nennen, obwohl diese beiden Ebenen in Wahrheit zunehmend isoliert voneinander existieren. Auf der anderen Seite steht die wesentlich präsentere und unübersichtlichere Welt der Popularmusik, deren ambitioniertere Produkte aber genauso ernsthaft und intellektuell diskutiert werden wie Uraufführungen von Henze, nur eben von anderen Kritikern. Warum müssen es andere sein? Ganz zu schweigen von der „dritten Geschichtsschreibung“, den ethnischen Musikrichtungen, die sich unter vollkommen anderen Voraussetzungen als den europäischen entwickelt haben, auch diese sind Teil unserer Welt.

Ich stelle die Frage nach dem, was Neue Musik heute ist, weil ich die Antwort selber nicht mehr weiß. Beharre ich auf der Definition Neuer Musik im Sinne von Adorno und dessen Nachfolgern, ignoriere ich eine gigantische Welt des ebenso legitimen Ausdrucks und größter Kunstfertigkeit, von Miles Davis bis zu den Beatles. Ignoriere ich wiederum Adorno, entgeht mir eine Ebene der Verfeinerung und des Außergewöhnlichen, die mir gerade in besonders kommerziell ausgerichteter Musik schmerzhaft fehlt. Was soll ich also als „Neue“ Musik für mich empfinden und gültig erklären?

Ich habe das Gefühl, dass immer mehr junge Komponisten sich diese Frage stellen, und das ist gut. Es ist eine Frage, die weit über das hinausgeht, was die unselige „E“-gegen-„U“-Musik-Debatte ansprach, denn es geht hier nicht um läppisch gegen tiefsinnig oder spritzig gegen verkopft, auch wenn Manche das gerne auf diese Weise vereinfachen würden.

Dass das, was wir an zeitgenössischer Musik heute erleben, inzwischen fast unvereinbar scheint und sich in hunderte, vielleicht tausende Subszenen zersplittert hat, DAS ist die große Herausforderung unserer Zeit und das schwere Vermächtnis des 20. Jahrhunderts. Vielleicht müssen wir unsere ganze Vorstellung von dem, was wir als „Neue Musik“ deklarieren, ändern und adaptieren, vielleicht kann das, was im 20. Jahrhundert musikalisch passiert ist, nur mit einem wesentlich holistischeren Ansatz als bisher begriffen und verarbeitet werden, einem Ansatz, der auch die bisher unterschätzten Ströme und Bewegungen zu begreifen und einzubeziehen weiß. Zumindest wäre dies meine Hoffnung.

Dennoch, hier sitzen wir, mit unserer Neuen-Musik-„Szene“, die gleichzeitig etwas unglaublich Enervierendes wie auch rührend Anbetungswürdiges hat. Ich begehe nicht den Fehler, mich über ihre Irrtümer und Skurrilitäten erhaben zu fühlen, schließlich bin ich selber Teil davon. Ich kann nur über andere lachen, nachdem ich über mich selber gelacht habe, das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt.

Es gibt auch eine Kritik, die ich sehr ernst nehmen muss, und das ist der Vorwurf, als Bad Boy gegen Positionen angeschrieben zu haben, die unter großem Druck stehen, ja voraussichtlich dem Untergang geweiht sind. Die Angst vor einem möglichen Zusammenbruch unserer Förderung geht nicht nur jetzt während der Wirtschaftskrise um, sie tritt nur deutlicher zutage. Gerade eben erfuhr ich, dass Holland, stets vorbildhaft in Sachen Förderung der zeitgenössischen Musik, seine besten Neue-Musik-Ensembles radikal zusammenstreicht oder gar die Unterstützung komplett aussetzt, kurz vor Weihnachten machte auch in Deutschland ein Brief die Runde, in dem auf die aktuelle Gefährdung der Zukunft der Darmstädter Ferienkurse hingewiesen wird.

Und tatsächlich, manchmal kam ich mir beim Schreiben meiner Bad-Boy-Kolumne wie jemand vor, der auf ein altes und krankes Pferd eindrischt. Oder einem ausgehungerten Rudel Hunde den letzten Knochen wegnehmen will. So böse will auch ein Bad Boy nicht sein.

Ich finde, dass man der momentanen Krise nur begegnen kann, wenn man sie als Chance zu einem neuen Selbstverständnis begreift. Der abgedroschene Ruf nach „Paradigmenwechsel“ reicht hierzu nicht aus, er entspringt aber einer bestimmten Notwendigkeit, die ihre eigenen Gesetze schreiben wird. Gerade jetzt muss man schreiben, polemisieren, aber auch für Neue Musik kämpfen. Ich bin jederzeit bereit, diesen Kampf auch gemeinsam mit meinen schärfsten Kritikern zu führen – vom Aussterben bedrohte Elche sind wir alle (frei nach Robert Gernhardt). Anfangs dachte ich, dass die Themen gerade mal für eine Handvoll Artikel ausreichen würde, kaum wollte ich aber quasi den „letzten“ Bad-Boy-Artikel schreiben, fiel mir wieder etwas Neues auf, über das ich sprechen wollte. Ich mache also weiter – und interessiere mich auch für Antworten, andere Ansichten, Diskussionen und fruchtbaren Streit. Im Netz unter www.nmz.de und bei Bedarf auch wieder auf diesen Seiten.

Nur wenn man auf den Putz haut, kann man auch prüfen, ob dieser schon bröckelt.

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