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Furchtloses Festival an abgelegenem Ort

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Neun außergewöhnliche Tage mit Neuer Musik bei den „Ostrava Days“ 2011
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Das Festival „Ostrava Days“ 2011 eröffnete mit einer klaren Aussage: die groß besetzte Janáčkova Filharmonie Ostrava im Philharmonischen Saal, dahinter auf der Bühne zwei Perkussionisten, dazwischen immer wieder Stimmechos aus dem Nirgendwo – eine Meditation, jäh gestört von schroffen, ritualistischen Motiven und romantischen Zwischenspielen, kombiniert mit ungewöhnlichem Pathos des vollen Spektrums: von Kampfgeist bis Stille.

Rolf Riehms Werk „Wer sind diese Kinder“ aus dem Jahr 2009 bezieht sich ganz explizit auf die Kinderopfer des Krieges. In einem einzigen 30-minütigen Satz vermischt sich eine Aufnahme von Liedern in Arabischer Sprache und Nachrichtenmeldungen mit einer Klagesymphonie mit Klavier. Den traurigen Inhalt verarbeitet das Werk in majestätischer Musik und mündet wunderbar unerwartet in einen ausgehaltenen Ton – ein Moment der Sanftmut, der zugleich auf die bevorstehende Woche voll kühner, abenteuerlicher Musik vorbereitete. Die hochemotionale Wirkung des Werks geht natürlich auf den Komponisten zurück, doch hat auch die musikalische Leitung des Dirigenten und Festivalgründers Petr Kotik keinen geringen Beitrag dazu geleistet. Die erste Programmhälfte am ersten Abend endete mit Kotiks „Fragment“ (1998), ein Werk mit klangreichen Phrasen, in dem der Komponist sehr effektiv mit dem Orchester umgeht: volle Ensemblesätze, gegenläufige Kontrapunktik und wunderschön kahle Passagen der Blechbläser.

Die Konzerte fanden im Philharmonischen Saal und im Janáček-Konservatorium statt. Einzige Ausnahme bildete ein Chorkonzert in der St.-Wenzelskirche aus dem 13. Jahrhundert, wo Peter Graham, ein Komponist tschechischen Ursprungs, in seinem Werk „Cantiga del amor final“ (2001) ein hämmerndes Orchester und ein darüber aufsteigendes Englischhorn (Beatrice Gaudreault-Laplante) mit einem stöhnenden Chor verbindet, dann mit rituellen Trommelschlägen fortfährt und das Orchester stets verdichtend in eine erstaunliche dynamische Steigerung treibt, um nach einer dramatischen Pause eine unbegleitete Arie (Marta Tomankova) erklingen zu lassen.

Höhepunkt des Kirchenkonzerts war eine atemberaubende Aufführung von Salvatore Sciarrinos „Infinito Nero“ (1998). Die Heldin – dramatisch gesungen von Katalin Karolyi – ist neben dem Ensemble aus Streichern, Klarinette, Flöte, Perkussion und Klavier die einzige Protagonistin einer gespenstischen Szene. Sie bezieht sich auf eine Mystikerin des 17 Jahrhunderts, die göttliche und dämonische Stimmen gehört haben soll. In einem langen, schwarzen Kleid auf einem schwarzen Bett sitzend singt Karolyi leise alptraumartige Worte, steigert bei anfangs eher schleppendem Tempo die Intensität der Stimme bis hin zu wilden, von ihrer Besessenheit zeugenden Oktavsprüngen. Neben dem anhaltend spärlichen Instrumentalklang wuchs ihre Stimme schließlich zu raumübergreifender Dimension an. 

Um das Thema der Simultanität kreisten indes Werke von Cornelius Cardew, John Cage und Bernhard Lang. Studenten spielten unter der Leitung des Pianisten John Tilbury zwei Teile von Cardews „The Tiger’s Mind“ (1967) simultan. Es hatte den Anstrich eines echten sechziger-Jahre-Happenings. In Zusammenhang mit Kotiks Livemix von Cages Tape-Kollage „Fontana Mix“ sang die Sopranistin Salome Kammer Cages „Aria“, während Joseph Kubera und Mitglieder der Ostrava Banda Cages „Solos from Concert for Piano and Orchestra“ interpretierten. Bernhard Langs einfallsreiches Werk „Monadology XIVa (2011) versah Puccinis „Madama Butterfly“ mit seiner Sprache des Loopings und Samplings, während das Orchester die Themen langsam und subtil verzerrte, sich in Wiederholungsschleifen verlor und schließlich zu einem sanften Ende ohne Auflösung kam. 

Der am besten vertretene Komponist aus der Generation der radikalen Neuerfinder um die Mitte des 20. Jahrhunderts war aber Morton Feldman. Die Janáčkova-Filharmonie gab eine verwegene, an Gefühl fast überbordende Interpretation von „Structures“ (1962), während sie bei „Piano and Orchestra“ (1975) einen zurückhaltenderen Ton anschlug. Als absoluter Höhepunkt des Festivals erwies sich jedoch „Trio“ (1980) in einer von atemberaubender Ruhe gezeichneten Interpretation des ONCE-Trios (Conrad Harris, Arne Deforce und Dean Vandewalle). Das zweistündige Konzert begann um Mitternacht und wirkte beinahe erschütternd in seiner sanften, leisen Bestimmtheit. Nicht das wunderbare Spiel allein, sondern auch die Atmosphäre im Raum machte es zu einem Highlight.

Eine andere Form von Stille legte György Ligetis „Hamburg Concerto“ (2002) für kleines Ensemble aus temperierten und nicht-temperierten Instrumenten an den Tag. Unter der Leitung von Johannes Kalitzke bewegten sich vier nicht-temperierte Hörner klanglich grazil in einem von temperierten Hörnern, Streichern und Bläsern geschaffenen Rahmen. 

Höhepunkt des Programms des New Yorker JACK Quartet, das dieses Jahr im Zentrum des Festivals stand, war Horatiu Radulescus 5. Streichquartett „before the universe was born“ (1995). Das großartig dichte Spiel mit nahtlosen Übergängen zwischen tonalen und harmonischen Wendungen erzeugte eine klangliche Illusion, als wäre hier das Quartett und dessen Geist am Werk. Jedes Festival braucht ein großes Finale – das erledigten das Janáčkova- und das Banda-Orchester zusammen mit Kubera und dem Bariton Alekander Vovk in einem monumentalen Auftritt. New Yorks Meister der Basspfeife Phil Niblock erntete begeisterten Beifall für sein Basspfeifenwerk „Baobob“ mit beiden Orchestern, das von zwei Filmen begleitet wird, die Menschen in Asien zeigen, die Netze knüpfen, fischen und kochen. Wenn die Aussage auch implizit blieb, so schien der Komponist den Abbau der Trennung zwischen darstellender Kunst und körperlicher Arbeit zu intendieren. 

Bei Wolfgang Rihms „Concerto“ (2000) stieß nun das JACK Quartet zu dem Doppelorchester. Das Werk behandelt das Quartett als Einheit, einem Solisten gleich. Dieses quasi Streichquartettkonzert bildete in seinem Tempo und seiner Größe einen Gegenpol zu Niblocks Werk.

Den glanzvollen Abschluss von außerordentlichen neun Tagen Musik bildete Galina Ustvolskajas „Symphony No. 2 – True, Eternal Bliss“ (1979), gespielt von den zwei Orchestern (minus Streicher) mit Kubera und Vovk und zwei prominenten aufgestellten Basstrommeln. Klavier, Perkussion sowie der Rest des Orchesters schienen im Klangfeld zu rotieren gegen Vovks Anrufungen Gottes in russischer Sprache. 

Auf dem Balkon des Philharmonischen Saals sprach Kotik beim Schlussempfang sehr offenherzig über die von ihm über ein Jahrzehnt hinweg aufgebaute Institution und genehmigte sich dazu eine Zigarre. Auf die Frage eines britischen Journalisten nach der Freiheit, die ihm als Festivalkurator zukommt, antwortete Kotik ernst: „Man geht kein Risiko ein, man macht die Arbeit. Man geht nur Risiken ein, wenn man sich davor fürchtet, was kommen wird.“ In einer abgelegenen Ecke der Tschechischen Republik, wenige Kilometer von der Polnischen Grenze entfernt, hat Kotik ein furchtloses Festival geschaffen.

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