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Ein kreativer Prozess und sein Ergebnis: Impressionen zu „Comfort Ye“. Fotos: Yassae Booley
Ein kreativer Prozess und sein Ergebnis: Impressionen zu „Comfort Ye“. Fotos: Yassae Booley
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Gemeinschaftliches Komponieren in Echtzeit

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„Comfort Ye“ – wie ein südafrikanischer Jugendchor sich eine Oper schreibt · Von Cathy Milliken
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„Comfort Ye“ ist eine Oper, die von den Mitgliedern eines Schulchores aus dem südafrikanischen Township Bloekombos bei Kapstadt geschrieben wurde. Der Chor hat mehrfach nationale Preise gewonnen, die Sänger erhalten regelmäßig Stimmbildung, aber keine theoretische musikalische Ausbildung. Die Idee, die jungen Menschen eine auf ihren Lebenserfahrungen basierende Oper gestalten zu lassen und so die Infrastruktur der europäischen Oper mit dem Potenzial und dem Temperament junger Südafrikaner zusammenzubringen, kam vom Umculo Cape Festival und seinem Regisseur Robert Lehmeier. Die Premiere fand im März 2015 im Artscape Theatre, Kapstadt, statt und erhielt den europäischen „Reseo Award – Opera for Young Audience“. Für die nmz hat die Musikvermittlerin und Komponistin Cathy Milliken ihre Eindrücke von diesem besonderen Arbeitsprozess notiert.

Am Beginn unserer Arbeit an „Comfort Ye“ stand ein kalter, leicht windiger Dezembertag. Unser Umculo-Team kam an der Bloekombos Secondary School an, es waren Ferien und wir hatten Aufregendes von den jungen Stimmen gehört, die uns erwarteten. Den Probenraum teilten wir rasch in zwei Bereiche auf – eine Schreibzone mit Tischen und eine Aktivzone zum Singen, Bewegen und Tanzen. Und als wir da zusammenkamen in dem Wissen, gemeinsam Neuland zu betreten, entstand plötzlich ein großes Schweigen.

Dieser Augenblick gehörte Robert Lehmeier. In früheren Umculo-Produktionen hatte er die jungen Menschen mit der Bühnen- und Opernarbeit vertraut gemacht. Nun erweiterte er dies um die Idee, eine eigene Oper auf der Grundlage der Lebenserfahrungen der Chormitglieder zu kreieren und machte allen klar, was da an Einsatzbereitschaft auf sie zukam: Es würde nicht nur darum gehen, sich einander zu öffnen, seine Gedanken aufzuschreiben und mit anderen zu teilen, sondern später auch zu komponieren und bei der Aufführung die eigene Oper, die eigenen Geschichten vor ein Publikum zu bringen.

„I never thought we would actually be writing an opera about our own stories!“

Wir spürten den Anfang, das Anlassen des Motors, und dies war für mich der Zeitpunkt, als Workshop-Leiterin und Vermittlerin das „Eis zu brechen“. Wir stellten uns im Kreis auf, jeder gleichermaßen sichtbar und präsent. Wir sangen uns ein, machten Grimassen und merkwürdige Geräusche, bildeten mit unseren Stimmen Cluster und ließen die Klänge, die Ausgelassenheit, die Lust am Augenblick Besitz von uns ergreifen. Wir lauschten dem Chor, geleitet von Siyabulela Sulelo, beim traditionellen „N’gosiam“. Die Stimmen stiegen mit grenzenloser, ungebrochener Kraft empor – eine wunderbare Inspiration für die vor uns liegende Arbeit.

Zum Umculo-Team gehörte auch Fatima Dike, eine renommierte Autorin Südafrikas. Sie sollte uns bei den Übersetzungen aus dem Xhosa und dabei helfen, die feinen Bedeutungsnuancen in den Texten aus dem Chor zu erkennen. Beim Wechsel in den Schreibtischbereich witzelte Fatima mit den Sängerinnen und Sängern herum, um ihnen die Scheu vor den unberührten Notizbüchern und Stiften zu nehmen – wer könnte diesen Moment besser einschätzen als eine Schriftstellerin? Schließlich begann das Schreiben. Meine Bitte an den Chor war es zunächst, ganz einfach ohne abzusetzen das zu notieren, was ihnen in den Sinn kam, die Hand kreisend, bis sich Worte formen. Das Thema war komfortabel: Was macht ihr gerne am Wochenende? Die Idee dahinter war, den Schreibvorgang als solchen zu „ölen“, das Gefühl des Fließens beim Schreiben hervorzurufen, ohne jede Zensur von Gedanken.

Die folgenden Vormittage begannen stets mit musikalischen Warm-ups zur Vorbereitung. Alle machten mit und es entstand ein ruhiger, entspannter, gemeinsamer Einstieg in den Tag. Ich führte Improvisationsspiele ein, die neue Stimmklänge und -techniken umfassten und ein Gefühl für Teamwork und gemeinschaftliche Kreativität geben sollten. Manche Spiele bestanden aus unmittelbaren Frage-Antwort-Improvisationen, andere fanden in kleineren Gruppen statt und drehten sich darum, aus den Namen kurze Vokal-Choreographien zu gestalten, oder waren stärker textorientiert. Eine Improvisation – Text und Melodie über einem achttaktigen Riff – basierte auf dem, was man morgens nach dem Aufstehen so macht. Eine Zeit lang schienen wir vom Frühstücken und Zähneputzen fasziniert, doch dann wurde es interessanter: „Ein Elefant kam an meinem Fenster vorbei“, „Ich bin mit einer Schlange in meinem Bett aufgewacht“. Blitzten da nicht Robert Lehmeiers „Libretto-Augen“ auf, näherten wir uns schon dem Opernhaften?

Nun war es an der Zeit, unsere Fragen für die Schreibwerkstatt zu fokussieren und zu verfeinern, ein unbequemer, aber notwendiger Schritt. Die Fragen wurden intensiver, persönlicher: „Was sagt Deine Mutter immer zu Dir?“, „Was willst Du machen, wenn Du mit der Schule fertig bist?“ Es wurde über Themen diskutiert und geschrieben, die das Leben und den Alltag dieser Teen­ager berührten: Familie, Freunde, Liebe, Einsamkeit, Freude, Gut und Böse, Sehnsucht, Flucht, Gleichheit und Unterschied, Erinnerung an die Vergangenheit und Zukunftspläne. Die Texte der Chormitglieder förderten schöne Bekenntnisse erfüllten jugendlichen Lebens zutage, legten aber auch Zeugnis ab von den Schwierigkeiten, in einem Township aufzuwachsen.

Bloekombos, die Heimat des Chores, liegt östlich von Kapstadt, etwa zwei Kilometer von Kraaifontein entfernt an beiden Seiten der Old Paarl Road. Es gibt ein Krankenhaus, vier Schulen, einige Kinderkrippen und Kirchen. Trotz dieser Infrastruktur ist die Arbeitslosigkeit hoch, es fehlen öffentliche Mittel, es herrscht Armut, was sich in den Geschichten der Chormitglieder widerspiegelt. Viele Familien haben nur einen Ernährer und außerhalb von Schulgrenzen sind Kinder immer in Gefahr. Die Gemeinde ist auch stark von der HIV/Aids-Pandemie betroffen, was die finanzielle Sicherheit und den Rückhalt für Kinder und Familien zusätzlich bedroht. Stück für Stück wurden die Texte aus dem Chor detaillierter: Berufswünsche kamen zu Tage, Geschichten über Herausfordungen und Nöte wurden erzählt. Was richtet einen auf, wenn es Schwierigkeiten gibt, wer steht einem in Zeiten von Elend und Verlust zur Seite? Es war an der Zeit, Lieder zu schreiben. In kleinen Gruppen wählten die Schüler Texte aus, denen sie sich nahe fühlten.

„Having a good friend is like having a shining star …“

Ich ging von Gruppe zu Gruppe und ermunterte jeden, beim Singen seine eigene Melodie zu finden – Wort für Wort, wohin führt das Singen intuitiv? Welchem Rhythmus, welcher Melodie folgt der gesprochene Text? Wo muss ein Wort, eine Tonhöhe landen? Braucht eine Phrase mehr Fülle, mehr Geschwindigkeit oder einen Höhepunkt? Wie kann die Melodie eine unerwartete Dimension hinzufügen? So wurden die kraftvollen Geschichten zu Liedtexten und zu Musik: Hier ein Baby, das von seiner Mutter neben der Straße in einem Korb abgelegt wurde, dort jemand, der Pharmakologe werden will, um Aids zu bekämpfen. Melodien zu erfinden, wirkte anfangs wie ein umständlicher Prozess, aber eigentlich sangen die Chormitglieder ständig – beim Essen, vor den Workshops, währenddessen und danach. Die Tatsache, dass Lieder einen zentralen Bestandteil ihres Lebens ausmachten, führte dazu, dass das Songwriting ihnen mit Freude und Leichtigkeit von der Hand ging. Ungewohnt war für sie das Teilen und Diskutieren ihrer Einfälle und das Feilen an Details, um ihre Gedanken bestmöglich auszudrücken.

In dieser Phase gab es viele heikle Momente, als einzelne Lieder Gefahr liefen, aussortiert zu werden, ihre Daseinsberechtigung zu verlieren. Meine Rolle bestand darin, in den verschiedenen Gruppen Hilfe und Ermunterung anzubieten und den Prozess des gemeinschaftlichen kreativen Arbeitens und des Erinnerns zu unterstützen. Denn der Rückbezug auf die ursprüngliche Intention brachte den Mut und den Willen zurück, ein Lied fertigzustellen. Manchmal geschah das innerhalb von Sekunden, als rasche, sprunghafte Verwandlung in ein vollständiges Lied. Waren Musik und Text festgelegt, entwickelten die Kleingruppen spontan – eine Art Komponieren in Echtzeit – parallele Nebenstimmen, die ein wichtiges Kennzeichen der Oper wurden.

Der Handlungsrahmen von „Comfort Ye“ wurde – angeregt von Robert Lehmeier – ebenfalls im Kollektiv entwickelt. Dieser sollte eine Zeitspanne von 24 Stunden umfassen, unter Beteiligung der Chorsänger, ihrer Community und der lokalen Polizei. Dann fragten wir, ob ein Element fehle. „Ja“, hieß es da, „eine Liebesgeschichte!“ Ein breites Lächeln zog sich über die Gesichter. Was wäre eine Oper ohne Romanze?

Im Rückblick auf die Anfänge des Projekts und die Unsicherheit angesichts des „weißen Blatts Papier“ war die Bereitschaft und Offenheit der jungen Sänger entscheidend gewesen, über ihr eigenes Leben zu schreiben. Dieser Schrei nach einer Liebesgeschichte kam nun mit spontaner Freude und war für das Projekt ebenso wichtig wie ein erhebender Moment im Leben. Fatima Dike, die sich regelmäßig als Mentorin junger südafrikanischer Autoren engagiert, war vielleicht am wenigsten überrascht von den Ergebnissen, doch nicht minder begeistert. Nichts, was an Texten aus dem Chor kam, wirkte zensiert oder unaufrichtig. Manche Geschichten vom Erwachsenwerden oder über familiäre Verhältnisse waren den Sängern neu – sie erfuhren mehr voneinander. Improvisierend gestalteten sie Musik und Songs gemeinsam. Aus dem Gefühl für den Chor als Einheit heraus konzentrierte sich der kreative Prozess darauf, was der Chor sagen und ausdrücken wollte. Text und Musik entsprangen ihren Geschichten, nichts war banal oder abgedroschen.

Zeit, Bilanz zu ziehen: Wir hatten insgesamt sechs neue Lieder entwickelt, darüber hinaus weitere Texte. Das Szenario für die Oper hatte der Chor angeregt. Später würde Robert Lehmeier die Texte kombinieren und im Sinne eines Librettos überarbeiten. Für die Aufführung waren dann außerdem eingeschobene Arien und Chöre von Händel vorgesehen. Ich komponierte einige Arien für die Profisänger, welche die Rollen der Eltern und der Polizisten übernehmen würden, sowie weitere Chorstücke. Die Partien der Liebenden wurden von jungen Schauspielern übernommen und die Oper sollte mit einem Epilog von „Comfort Ye“ enden, verwoben mit der afrikanischen Melodie „N’gosiam“ und mit „When I was a child“, einem der Chorlieder.

Zurück in unsere Klassenzimmer in Bloekombos und zu unserem letzten Workshoptag. Winterliche Blässe filterte die Sonnenstrahlen, der Wind war abgeflaut. Es war der 5. Dezember, der Todestag Nelson Mandelas, und einige der Chorsänger zeigten offen ihre Trauer. Fatima sprach über „Madiba“, über seine Größe, über ihre erste Begegnung mit ihm, über Versöhnung. Dies stellte für alle eine Verbindung her, um über seine Bedeutung für das südafrikanische Volk und über die universelle Botschaft von Trost und Hoffnung nachzudenken, die er allen hinterlassen hatte. Mit den Worten des Chores aus ihrer neuen Oper: „It is right for us to live in peace with one another.“ 

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