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Heimat – ein Thema für den Musikunterricht?

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Teil 2 · Von Constanze Rora *
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Die Analyse Erwin Straus’ zeigt aber, dass sich die zentrierte Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht leugnen oder übergehen lässt, sondern in vielen alltäglichen Situationen und Sprachgewohnheiten zum Ausdruck kommt. Brauchtum und Heimatabende erscheinen aus diesem Blickwinkel als Inszenierungen, in denen der Versuch unternommen wird, für einen Augenblick lang, die Distanz und Individualisierung aufzuheben, wie sie für die moderne Gesellschaft kennzeichnend ist und in Erinnerung an vormalige Traditionen eine kollektive Identität zu beschwören. Während die Identität des Menschen in der modernen Gesellschaft auf Differenzerfahrungen, das heißt auf Abgrenzung und Individualismus beruht, basiert die im Heimatgefühl gesuchte kollektive Identität auf Identifizierung mit der sozialen, landschaftlichen und kulturellen Umgebung.

Bezugnehmend auf die Analyse von Erwin Straus beobachte ich zwei unterschiedliche Formen, in denen sich die Heimatthematik musikdidaktisch bemerkbar macht:

a) Heimat als Atmosphäre
b) Heimat als Reflexionsfigur

zu a) Heimat als Atmosphäre

Heimat erlebt das Individuum als eine Situation der Verbundenheit und Eingebundenheit in seinem sozialräumlichen Nahbereich. Musik scheint eine solche zentrische Erlebensweise zu unterstützen. So zeigen Untersuchungen zum Umgang Jugendlicher mit Musik, dass sie diese genau dazu nutzen, zentrisch erlebte Räume zu kreieren. Ein anderes musikalisches Phänomen, das sich mit dem Gefühl von Heimat in Verbindung bringen lässt, sind musikalische „Gemeinschaftserlebnisse“: Erstsemestler werden von uns in der Einführungsveranstaltung nach ihren wichtigen musikalischen Erfahrungen befragt und äußern hier in erstaunlicher Übereinstimmung zwischen den Jahrgängen, dass „Gemeinschaftserlebnisse“ im Zusammenhang mit musikalischer Praxis für sie den nachhaltigsten Gewinn ihrer musikalischen Biografie ausmachen. Es wäre ein eigenes Forschungsprojekt herauszufinden, was mit Erlebnissen dieser Art gemeint ist. Die Erfahrung, dass die Gruppe mehr zählt als ihre Mitglieder? Die Erfahrung von Zusammenhalt und Solidarität? Die Erfahrung geselligen Miteinanders und einer damit verbundenen Kurzweiligkeit?

Was sich aus diesem Zusammenhang als Konsequenz oder Anforderungen an den Musikunterricht ergibt, ist entsprechend offen. Musizieren scheint zu einem psychosozialen Gesamteffekt zu führen, indem es eine (heimatliche) Atmosphäre des Zusammenhalts und geselligen Miteinanders evozieren kann. Andrerseits sollte diese Verbindung nicht zu der kurzschlüssigen Annahme führen, dass sich dieser Effekt als Automatismus einstellt. Das soziale Miteinander im Medium des Musikmachens bedarf einer Inszenierung, die sich die Integration aller Beteiligten zur Aufgabe und zum Ziel macht. Denn allzu leicht schlägt die Betonung eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Gruppe in Situationen der Aus- und Abgrenzung um. Für Kinder oder Jugendliche, die eine Außenseiterrolle in der Klasse haben, kann das Zelebrieren von Gemeinschaft zu einer Verschärfung ihrer Situation führen.

Ein Zelebrieren der Gemeinschaft im Klassenmusizieren ist auch aus dem Grund nicht als dominierendes Modell des Musikunterrichts wünschenswert, weil es darauf basiert, dass sich alle in einem musikalischen Alltagsidiom wiederfinden.15 Die Herstellung einer Atmosphäre von Nähe, Gewohnheit und Spaß mit musikalischen Mitteln kann daher nur eine Teilaufgabe des Musikunterrichts sein, die einer Ergänzung durch die Ermöglichung von Differenzerfahrung bedarf.

zu b) Heimat als Reflexionsfigur

Die Reflexion der Heimatthematik aus der Perspektive musikalischer Phänomene führt zu einer Vielzahl von Beobachtungsfeldern. So lässt sich nach der musikalischen Heimat von Musikern und Komponisten fragen. Damit werden Zusammenhänge sowie Divergenzen zwischen biografischen Aspekten und musikkulturellen Räumen angesprochen. Ein interessantes Feld von Fragen ergibt sich, wenn Musiker in mehreren weit auseinander liegenden Musikkulturen zu Hause sind. Es kann auf die musikalische Auseinandersetzung von Musikern und Komponisten mit lokalen oder volkstümlichen Musikstilen fokussiert werden oder auch gefragt werden, inwieweit Musik oder Musiker gelegentlich von den Hörern für eine Region, ein konkretes Heimatgefühl in Anspruch genommen werden, ohne dass sie selbst zu dieser Region ein besonders inniges Verhältnis hätten. (Dies Phänomen zeigt, dass es im Zusammenhang immer um Projektionen, Zuschreibungen bzw. Konstruktionen geht.) Peter W. Schatt unterscheidet drei Möglichkeiten, wie sich Heimat in der Musik darstellen und zum Unterrichtsgegenstand werden kann.

  • als ein musikalisches Thema, das durch textliche oder kontextliche Zusammenhänge auf die Heimatthematik verweist
  • als Bezugnahme auf Volksmusik und Folklore
  • als heimatliche Anmutung im Sinne „emphatischer Innerlichkeit“16 des „,Zuhauses‘ des klingenden Etwas.“17

Während es in dieser Bezugnahme auf den Heimatbegriff, für die das von Schatt herausgegebene Themenheft verschiedene bedenkenswerte Beispiele bietet, um eine Auseinandersetzung mit der Heimat anderer geht, nämlich um biografische Bezüge zwischen Musik und Musikern, setzen andere Unterrichtsprojekte bei der Erforschung des eigenen musikalischen Nahraums durch die Schüler an. So werden Schüler der 3./4. Klasse zur Erforschung ihrer eigenen musikalischen Biografie angeregt und auf die Suche nach Zeugnissen (Gegenstände, CDs, Liederbücher, Erinnerungen der Eltern) ihrer eigenen musikalischen Vergangenheit geschickt18 oder sammeln in Anlehnung an Béla Bartók als Musiksammler Lieder und Aussagen zu Singtraditionen in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis.19 Ein anderes Unterrichtsprojekt, das sich an Schüler der 9./10. Klasse richtet, sieht eine Erkundung des Musiklebens an öffentlichen Plätzen der Heimatstadt vor. Hierzu sollen die Schüler eine Musikreportage erstellen. Auch hier blicken die Schüler mit anderen Augen auf ihre Umgebung und erhalten Gelegenheit, im eigenen Nahraum Unbekanntes zu entdecken.20

Unterrichtsprojekte dieser Art unterstützen den reflektierenden Blick auf die eigene Existenz, dessen Aneignung ein zentrales Ziel ästhetischer Bildung darstellt und für den die Heimatthematik eine zentrale Reflexionsfigur bietet.


Anmerkungen

15 Vgl. Hartung, Anja et al: Musik und Gefühl. Eine Untersuchung zur gefühlsbezogenen Aneignung von Musik im Kindes- und Jugendalter unter besonderer Berücksichtigung des Hörfunks. Leipzig 2009
16 Vgl. Vogt, Jürgen: „Adorno revisited“ oder: Gibt es eine ‚Kritik des Klassenmusikanten’ ohne kritische Theorie der Musikpädagogik? In: Hans-Ulrich Schäfer-Lembec (Hg.): Klassenmusizieren als Musikunterricht!? Theoretische Dimensionen unterrichtlicher Praxen. Beiträge des Münchner Symposions 2005. München 2005, S. 13-24, S. 21
17 Schatt 1998, S. 7
18 Ebd.
19 Neumann, Friedrich: Duett. Lehrerband 3/4. Mainz 2005, S. 14
20 Neumann, Friedrich: Duett. Schülerband 3/4. Mainz 2005, S. 22

* Kurzfassung eines Beitrags zur internationalen Webkonferenz „Tschechisch-Deutsche Beziehungen im Bereich Musik in der Vergangenheit und in der Gegenwart“ der Jan Evangelista Purkyne-Universität Ústí nad Labem, Ltg. Ivana Ašenbrenerová, 1.10.–15.11.2010. (http://pf.ujep.cz/khv/hudebnivychova)

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