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Im Niemandsland geisterhafter Phantastik

Untertitel
Kompositionen von Erkki-Sven Tüür in Nürnberg und Ansbach
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Daß sich mit intensiver verlegerischer Unterstützung eine Komponistenkarriere planen läßt, ist nichts Neues. Recht früh haben westliche Verlage das Potential östlicher Komponisten wie Schnittke, Pärt oder Gubaidulina auszuwerten verstanden. In den letzten Jahren hat eine zweite Anwerbungswelle eingesetzt, die Tonsetzer wie Vasks, Kancheli und Tüür betrifft und äußerst erfolgreich verläuft. All diesen Schaffenden ist eine ziemlich unverwechselbare stilistische Physiognomie gemein. Eine Ausnahme macht davon bisher noch der 1958 geborene Este Erkki-Sven Tüür. Er hat bei Estlands eminentestemSymphoniker Lepo Sumera studiert, der seinerseits der jüngste Schüler des legendären Heino Eller war, zu dessen Studenten schon Tubin und Pärt gezählt hatten. Tüür hegt – ähnlich seinem Landsmann Raimo Kangro – zugleich eine starke Faszination für künstlerisch ambitioniertere Spielformen westlicher Rockmusik, vor allem für die um Robert Fripp rotierenden „King Crimson“, die auch Vorbildfunktion für seine eigene Band „In Spe“ hatten. Diese beiden Wurzeln – die estnische Tradition in einer von Lepo Sumera geprägten Richtung und die Freude an den vertrackten Rhythmen und schroffen Elementen des Art-Rock – haben auf Tüür den offensichtlichsten Einfluß gehabt. Der bei uns weit unterschätzte Sumera ist ein souveräner Meister innovatorischer symphonischer Großformen, der insbesondere die freitonalen Grenzregionen zwischen oft aleatorischem Quasi-improvisando und komplexer Konstruktion auskundschaftet. Tüür hat sein Augenmerk auf ähnlich Grenzgängerisches geworfen, versucht dabei aber ein Fusionsideal zu verwirklichen, das noch weit gegensätzlichere, fast unvereinbare Aspekte umfaßt. Solch extremer Kontrastbedarf birgt natürlich hohe Risiken für die von Tüür angestrebte Kohärenz der Form, und manche Werke, darunter „Zeitraum“, erscheinen doch etwas unausgeglichen. Gerade in letzter Zeit aber sind Tüür zwei größere Werke aufs Vorzüglichste gelungen: ein äußerst vielschichtiges, farbiges und nicht zuletzt dankbares Cellokonzert und die in diesem Jahr vollendete Dritte Symphonie, die Tüür selbst für sein bisher wichtigstes Stück hält. Diese Symphonie, die sich in zwei zugleich opponierende und einander in ihren Binnenbezügen ergänzende Abteilungen gliedert, wurde im Mai in einem ausschließlich Tüür gewidmeten Konzert von den Nürnberger Symphonikern unter Franz Killer erstmals hierzulande gespielt. Und plötzlich war Tüür ein fränkisches Phänomen: Als Auftragswerk der Bachwoche Ansbach spielte die Solistengemeinschaft des Festivals unter Thomas Hengelbrock die Uraufführung von Tüürs „Lighthouse“ für Streicher. Das ungefähr zehnminütige Werk ist, wie stets bei Tüür, klanglich vortrefflich gearbeitet. Eine typisch estnische Tendenz zu minimalistischer Melodik korrespondiert mit suggestiven, mannigfaltig verschobenen Rhythmen. Mit phantasievoller Eleganz holt Tüür viel Spannung aus dem Niemandsland zwischen geisterhaft wirbelnder Fantastik und statisch-harmonischem Sehnen. Am ehesten an Sumera erinnert das einigermaßen bizarre Fugato. Fulminant ist der wilde Abschluß. „Lighthouse“ ist ein wenig ‚Tüür as usual‘, dürfte aber – wie schon „Insula deserta“ – mit ‚cooler‘ Spielfreude noch viele Freunde finden. Es gelingt Tüür, unterschiedliche Hörerschichten anzuziehen.

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