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Innovation ist der Lebensnerv des gesamten Musiklebens

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Interview mit dem scheidenden Leiter der Abteilung für Neue Musik im WDR, Wolfgang Becker-Carsten.
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Ins Jahr 1997 fiel nicht nur das 25jährige Dienstjubiläum von Wolfgang Becker-Carsten, des Leiters der Abteilung für Neue Musik im Westdeutschen Rundfunk Köln. In dieses Jahr fällt nun auch das Ende seiner redaktionellen Tätigkeit für den Sender. Becker-Carsten, der Ende Dezember den WDR verläßt, hat in der Vergangenheit über den größten Etat für zeitgenössische Musik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verfügt und im Sende-, Produk-tions und Konzertbereich viele spektakuläre Ereignisse realisieren können, die weit über den Empfangsradius des Rundfunks hinaus wirkten. Nach dem bereits erfolgten Ausscheiden von Detlef Gojowy aus dem Redaktionsstab wird 1998 somit nur noch Harry Vogt in Köln wie bisher die zeitgenössische Musik betreuen. Eine Nachbesetzung von Gojowy und Becker-Carsten ist wohl wegen der im April bevorstehenden grundlegenden Programmreform des WDR 3-Hörfunks offensichtlich nicht vorgesehen. Seine bereits in Planung befindlichen Projekte wird Wolfgang Becker-Carsten über das Jahr 1997 hinaus in freier Mitarbeit betreuen. Die nmz nutzte die Gelegenheit und veröffentlicht als Würdigung des verdienten Radio-Manns ein Gespräch mit Wolfgang Becker-Carsten über die Arbeit der vergangenen 25 Jahre. nmz: Als Sie 1972 die Leitung der Abteilung für Neuen Musik im WDR von ihrem Vorgänger Otto Tomek übernahmen, bot die Neue Musik längst nicht mehr das geschlossene Bild wie in den fünfziger und sechziger Jahren. Woher rührt Ihrer Ansicht nach diese Entwicklung? Becker-Carsten: Die Musikszene der fünfziger und sechziger Jahre war vergleichsweise klein. Es gab wenige Veranstalter, die sich den hohen Kostenaufwand für die Organisation und Produktion von zeitgenössischer Musik leisten konnten. Im Grunde beschränkte sich die Veranstaltungstätigkeit in Köln auf das, was der Westdeutsche Rundfunk machte. Daneben gab es nur wenige private Initiativen. Daß die Konzerte damals ein besonders geschlossenes Bild darstellten, lag neben ihrer geringen Zahl auch daran, daß sie ganz isoliert vom Konzertleben auftraten – ich denke, sich auch absichtsvoll und vehement davon distanzierten. Im Laufe der siebziger Jahre hat sich daran alles geändert. Es sind in Köln viele Veranstalter hinzugekommen. Damit hat sich das Feld noch einmal in einer sprungartigen Vergrößerung erweitert. nmz: Diese institutionellen Veränderungen und das damit einhergehende endgültige Aus für eine einheitliche Ästhetik haben gewiß auch etwas mit der gesellschaftlichen Öffnung nach 1968 zu tun. Bestanden für Sie in der Redaktion einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt überhaupt Möglichkeiten, auf die politisch-sozialen Veränderungen inhaltlich einzugehen? Becker-Carsten: In der Musik gibt es eine Reihe von Themen, die in der Folge der 68er Bewegung auch eine Politisierung der musikalischen Ästhetik anstrebten. Gleichzeitig gab es natürlich eine ganze Reihe von Aufbruchsbewegungen, die zu tun hatten mit den sozialen und organisatorischen Strukturen, in denen neue Musik sich darstellt. In der Arbeit des Westdeutschen Rundfunks war ein hochbrisantes politisches Thema die Thematisierung des Orchesters als ein soziales Gebilde vor dem Hintergrund dieses Generalmusikdirektor-Ensembles mit einer strengen, hierarchischen Gliederung als Abbild einer in Schichten gegliederten Gesellschaftsordnung, die angezweifelt wurde, und einem Orchester, das man vielleicht in dieser Zeit mit dem Schlagwort des Mitbestimmungsmodells charakterisieren kann. Versucht habe ich das im WDR mit einer Reihe von Veranstaltungen, die den Namen „Orchesterwerkstatt“ trugen. Das Orchester war darin aufgerufen, in Diskussionen mit Komponisten und Dirigenten sich selbst zu reflektieren, darüber nachzudenken, wie denn in einem Orchester die Balance von Individualität und Gemeinsamkeit darstellbar ist. Dafür gab es dann mehrere kompositorische Entwürfe, die eigentlich keine abgeschlossenen Werke waren. Orchesterwerkstatt Auch das ist eine Folge der politischen Tendenzen, die aus den 68er Jahren entsprungen sind: der gesamte, absolute Kunstanspruch geriet ins Kreuzfeuer der Kritik und damit auch die Identität und Integrität eines musikalischen Werks. Die Orchesterwerkstatt war insofern ein Modellfall, weil die Komponisten nicht Notenmaterial ablieferten, das die Musiker möglichst textgenau zu reproduzieren hatten, sondern eine ganze Reihe an Vorschlägen machten, bei denen die improvisatorische Beteiligung des Musikers eine große Rolle spielte. Diese Arbeit brachte wichtige Erfahrungen und führte in den drei Auftragskompositionen von Vinko Globokar, Dieter Schnebel und Rolf Gelhaar sehr bald an die Grenze dessen, was innerhalb der Institution einer Rundfunkanstalt machbar ist. nmz: Scheint kein Zufall zu sein, daß in einem solchen Kontext ein neues Interesse an der Musik aus den Vereinigten Staaten erwachte. John Cage etwa ist seit Beginn der siebziger Jahre – nach den legendären Auftritten in den Fünfzigern – ein regelmäßiger Gast in ihrer Redaktion gewesen. Becker-Carsten: Ja, und seitdem ist Cage permanent gegenwärtig. Es gab in Köln einige wichtige Uraufführungen. Cage ist der Komponist, mit dem das Rundfunk-Sinfonie-Orchester seine größten Herausforderungen in bezug auf eine Verwandlung der Institution Orchester in der Musik unserer Zeit erlebt hat. Mit seinem letzten Werk 103 hat Cage für den WDR kurz vor seinem Tod eigentlich das schöne Exempel einer Orchesterwerkstatt geschrieben. In 103 sind all die Fragen beantwortet, die einstmals Fragen geblieben waren: die Utopie einer freien musikalischen Sozietät, und damit auch die Utopie einer vollkommenen Gesellschaft. nmz: Damals, das waren vor allem die siebziger Jahre – eine Zeit der großen Utopien, der gesellschaftlichen und auch interkulturellen Öffnung. Welche weiteren Stationen lassen sich aus ihrer redaktionellen Tätigkeit heraus diesbezüglich nachzeichnen? Becker-Carsten: Die siebziger Jahre sind natürlich unter dem Eindruck dieser Aufbruchssituation von 1968 mit der Utopie einer Erweiterung des Verständnisses der neuen Musik in großen Kreisen des Publikums angetreten und haben sich darum bemüht, mit vielen dramaturgischen Wegen dies zu realisieren. Nicht durch eine Vereinfachung der musikalischen Texte, sondern durch eine Sensibilisierung der Ohren. Im Grunde haben wir uns gewünscht, daß im Sinne des schönen Neujahrsgrußes von John Cage, „Happy New Ears!“, die neue Musik möglichst vielen Zuhörern möglichst viel Vergnügen machen sollte. Begegnungen mit ... Dafür sind etwa Programmkonzepte entstanden, die neue Musik in sozialen und kulturellen Zusammenhängen präsentieren sollten, Konzepte, die es in dieser Form früher nicht gab. So habe ich damals eine Reihe mit dem Titel „Begegnung mit...“ entworfen, in der neue Musik in den Kontexten von alten musikalischen Kulturen dargestellt wurde, die auch in Europa ihre Spuren hinterlassen haben: musikalische Traditionen aus Japan, aus Korea, aus Indien, aus Brasilien. nmz: Mit Cage – und wieder im Zusammenhang mit dem Stichwort „Utopie“ – ist dann 1987 auch ein ganz besonderes Ereignis im Westdeutschen Rundfunk verbunden, in dem musikalische Innovation eingefaßt wurde von einer innovativen Durchbrechung des traditionellen Konzertrituals... Becker-Carsten: „CageNachtTag“ war ein sehr interessantes Projekt, das 24 Stunden Musik von John Cage im Radio präsentierte, aber gleichzeitig als eine Art musikalischer Fete in der Kölner Musikhochschule, in der romanischen Kirche St. Maria im Kapitol und im Funkhaus ablief. Das Programm glich einer Kulturlandschaft, die der Besucher betreten und verlassen konnte zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt. Spannend war auch das Ineinanderwirken von Konzert und öffentlicher Kommunikationsform mit dem Radio. Da konnte man zum Beispiel um Mitternacht die Nachrichten aus WDR 3 im Konzert hören, gleichzeitig wurde die Musik auch in die Foyers übertragen, so daß man nicht mehr unbedingt auf seinem Sitzplatz im Saal verharren mußte. nmz: Mit der Leitung der Abteilung für Neue Musik übernahmen Sie zugleich die redaktionelle Verantwortung für das Studio für elektronische Musik. Obwohl das Studio damals längst die Monopolstellung verloren hatte, die ihm einst zukam, ist es bis heute immer noch eine bevorzugte Experimentierstätte für viele Komponisten aus dem In- und Ausland geblieben. Worin, glauben Sie, liegt seine andauernde Anziehungskraft begründet? Becker-Carsten: Das Studio für elektronische Musik im Westdeutschen Rundfunk ist seit den fünfziger Jahren eines der bedeutendsten Experimentierfelder im Umgang mit elektronischem Klang. In der frühen Zeit war es die Keimzelle der elektronischen Musik, die von hier aus in die ganze Welt ausstrahlte. Damals wurden in Köln vor allem Tonbandkompositionen produziert – aber auch die Anfänge der Live-Elektronik sind in Kompositionen von Stockhausen aus dem Kölner Studio hervorgegangen. Die Vereinigung der zunächst für gegensätzlich gehaltenen Klangwelten ist seitdem das zentrale Thema der Arbeit in Köln geblieben. Nachdem York Höller im Jahr 1990 als Nachfolger für Karlheinz Stockhausen die künstlerische Leitung übernommen hatte, sind daraus zahlreiche neue Realisationen hervorgegangen, die unter anderem im Festival „Musik und Computer“ vorgestellt wurden. Dabei hat sich mit der digitalen Technologie auch die Möglichkeit eröffnet, komplexe musikalische Gestalten darzustellen, bei denen Synthesizer, Sampler und elektronische Klangtechnik in das Instrumentalspiel integriert werden können. Kölner Schule York Höllers elektronisch aufgefächertes Klavierkonzert mit dem Titel „Pensées“ ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Einbeziehung elektronischer Mittel in eine freie interpretatorische Zeitgestaltung. Auf diesem Wege einer Sensibilisierung der elektronischen Klangmittel für ein lebendiges Spiel im Augenblick der Aufführung wird sich auch die künftige Arbeit des Kölner Studios neue Wege eröffnen können. nmz: Für die serielle Ästhetik im Kreis um Stockhausen, Eimert und dem Studio für elektronische Musik des WDR hatte sich einst das Wort von einer „Kölner Schule“ etabliert. Lassen sich heute noch Kölner Spezifika oder gar WDR-Spezifika gleich welcher Art in der zeitgenössischen Musik dingfest machen? Becker-Carsten: Es ist zweifellos noch immer ein an diesen Ort gebundenes Lokalkolorit vorhanden. Dies hat auch zu tun mit den Ursprüngen in der seriellen Musik – und sei es nur durch die Vehemenz, mit denen sich später Komponisten gegen den Serialismus auflehnten. Zur „Kölner Schule“ hat schon sehr bald eine internationale Offenheit gehört. Die Komponisten der frühen Zeit kamen nicht nur aus Köln. Sie kamen aus Argentinien, aus Uruguay, aus Ungarn, aus den USA – damals schon war Internationalität, Liberalität und Weltoffenheit ein sehr prägendes kölnisches Zeichen. Niemals wurde im WDR in Köln versucht, einen lokalen Fundamentalismus zu entwickeln. Auch die Abteilung für Neue Musik des WDR ist und war ein Abbild von sehr vielen, von fast allen wichtigen musikalischen Strömen der Gegenwart, in die sie dann ihre eigenen Akzente hinein setzte. nmz: A propos „Kölner Töne“: Eine wichtige Figur im Kölner Musikleben und auch in Ihrer Arbeit war und ist Mauricio Kagel. Können Sie einige wichtige Stationen der engen und allem Anschein nach sehr freundschaftlichen Kooperation Ihrer Redaktion mit Kagel Revue passieren lassen? Becker-Carsten: Kagels Werke sind eine musikalische Abenteuerlandschaft, die in Köln und im WDR eine lange Reihe denkwürdiger Aufführungen bildet. Nach seiner großen Oper „Staatstheater“ hat sich Mauricio Kagel in den siebziger Jahren die musikalischen Traditionen aus verschiedenen Perspektiven kompositorisch betrachtet. Daß dabei auch das Radio analysiert wurde, ist in der Komposition „Programm“ als eine Serie von Kammermusikstücken abgebildet, in der sich die zufällige Buntheit eines Radioprogramms spiegelt: vom Zupforchester über das Zitherquartett und den Knabenchor bis zum halsbrecherischen Solostück. Programm Die Stücke heißen „Gespräche mit Kammermusik“ und wurden als ein Dialog mit dem Publikum auf zwei Bühnen in der Art eines Singspiels mit gesprochenen Texten aufgeführt. Daß man den Nicht-Spezialisten in die Aufführungen neuer Musik einbezog, war eines der Zeichen der Zeit und hat bei uns seine Fortsetzung im „Workshop Neue Musik“ gefunden, der seitdem regelmäßig im dritten Hörfunkprogramm des WDR zu hören ist. In Mauricio Kagels Dialog mit musikalischen Traditionen konnte man bei vielen WDR-Aufführungen immer auch seine kritische bis groteske Distanzierung von der Überlieferung erleben, in den „Variationen ohne Fuge“ in „Exotica“. Mit „Finale“ hat Kagel sich selbst zu seinem fünfzigsten Geburtstag gratuliert, der sechzigste wurde als ein großes musikalisches Wochenende im Funkhaus und der Philharmonie gefeiert, und in den „Liturgien“ hat Kagel im Mittelpunkt unseres Festivals „Begegnungen der Diaspora mit Israel“ die musikalische Utopie einer Ökumene der drei großen Weltreligionen Christentum, Islam und Judentum dargestellt. nmz: In diesem Zusammenhang muß noch ein anderer Name fallen: Stockhausen. Auch er ist mit seiner Arbeit an dem großen Bühnenwerk „Licht“ dem WDR eng verbunden geblieben... Becker-Carsten: Die Ursprünge für den Klang und die planetarische Thematik des Opernzyklus „Licht“ reichen bis zurück in die siebziger Jahre. Damals hat Stockhausen im WDR das abendfüllende Stück „Sirius“ realisiert. Ebenso sind alle elektronischen Kompositionen, die den Hintergrund seiner szenischen Klangaktionen bilden, im Studio für elektronische Musik des WDR entstanden. In der Kölner Philharmonie konnte man das Geburtsfest der Oper „Montag“ in einer halbszenischen Aufführung erleben, später dann auch die instrumentalen Kampfspiele, die am „Dienstag“ ausgetragen werden. nmz: Wie war der Erfolg der erwähnten Projekte beim Publikum? Und was ist aus der einstigen Utopien von einem anderen, einem größeren Publikum geworden? Becker-Carsten: Neue Musik hat durch die enorme Auffächerung der Konzertformen und der Anzahl der Veranstaltungen inzwischen doch sehr viel mehr Publikum erreicht, bei unseren Konzerten in der Philharmonie manchmal bis zu zweitausend. Das war in der frühen Zeit nicht denkbar gewesen. Der Kern der inhaltlich interessierten Zuhörer in Köln war in den fünfziger oder sechziger Jahren sicherlich nicht größer als vierhundert oder fünfhundert. Das Publikum heute ist immer noch relativ klein und muß durch viel Publicity und geschickte Programmdramaturgie dazu verlockt werden, in Konzerte zu kommen. nmz: Da geht es also auch um die Magnetwirkung großer Namen? Becker-Carsten: Wir versuchen in vielen Konzerten auch, prominente Namen sozusagen als Schutzheilige für weniger prominente Komponisten mit ins Feld führen. Durch die Erweiterung der Dimensionen der Veranstaltungen mit neuer Musik ist die musikalische Innovation selbst gleichwohl nicht stärker geworden als in der frühen Zeit. Sie ist nach wie vor ein musikalischer Sonderfall und kann nur mit einer sehr entschiedenen Protektion durch Institutionen am Leben erhalten werden, die in der Lage sind, mit relativer Unabhängigkeit von kommerziellen Erfolgen zu arbeiten. Musikalische Innovation benötigt zweifellos den größten Schutz im öffentlichen Kulturleben und zählt trotzdem zu seinen wichtigsten Bestandteilen. Sie ist meiner Meinung nach der Lebensnerv des gesamten Musiklebens. Interview: Raoul Mörchen

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