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Internationale Begegnung in Krisenzeiten

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Die Generalsekretärin der European Choral Association, Sonja Greiner, im nmz-Gespräch
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Der Umgang mit dem Corona-Virus, der Ukraine-Krieg sowie die Klima-Krise sind unsere großen Herausforderungen. Mit den materiellen und sozialen Folgen muss sich auch der Arbeitskreis Musik in der Jugend e.V. (AMJ) auseinandersetzen. Als Gründungsmitglied der Europäischen Föderation Junger Chöre (Europa Cantat) und heutigem Mitglied der European Choral Association (ECA) liegen ihm die internationalen Begegnungen, die auch immer interkulturelle Erfahrungen bedeuten, sehr am Herzen. Im Interview mit der ECA-Generalsekretärin Sonja Greiner spricht der AMJ über diese Herausforderung und mögliche Perspektiven für das internationale gemeinsame Singen.

Arbeitskreis Musik in der Jugend: Herzlichen Dank, liebe Frau Greiner, dass Sie für dieses Interview zur Verfügung stehen. Sie haben ja einen guten Überblick über die Kinder- und Jugendchöre in Europa. Was konnten Sie auf sozialer und emotionaler Ebene während der Corona-Krise bei den Kindern und Jugendlichen beobachten?
Sonja Greiner: Es ist schwierig pauschal etwas zur Situation in Europa zu sagen, weil die Situation während der Coronakrise von Land zu Land sehr unterschiedlich war. In Schweden durften Kinder und Jugendliche fast durchgehen singen, wenn auch zeitweise ohne Aufführungen, in anderen Ländern war Singen lange verboten, manchmal durfte nur mit Maske gesungen werden. Viele haben Angst, dass ihnen eine ganze Generation durch die Singverbote verloren gegangen ist. In Deutschland sagen inzwischen Statistiken, dass psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen stark zugenommen haben. Ich habe keine Zahlen für Europa, aber in manchen Ländern durften die Leute nur zum Einkaufen oder für Arztbesuche raus, Kinder manchmal wochenlang gar nicht, da kann man davon ausgehen, dass die Schäden teilweise noch größer sind als bei uns.
AMJ: Erwartet uns möglicherweise eine weitere Corona-bedingte winterliche Stille in den Chören? Wie schätzt die ECA die kommenden Monate ein?
Greiner: Momentan ist es so, dass in den meisten europäischen Ländern keinerlei Regeln mehr gelten. Manchmal gibt es noch eine Quarantänepflicht, aber keine Maskenpflicht mehr. Nur selten müssen noch Masken in Zügen und Bussen getragen werden. Teilweise werden gar keine Zahlen und Statistiken mehr veröffentlicht. Spanien zum Beispiel hat schon vor Monaten den Pandemie-Status aufgehoben. Wie sich die Situation in den nächsten Monaten wirklich entwickeln wird, hängt aber auch davon ab, ob es bei Omikron bleibt oder eine andere Variante auftaucht, die vielleicht ansteckender oder gefährlicher wird.
AMJ: Wir haben im August sehr erfolgreich unsere Internationale Jugendkammerchor-Begegnung auf Usedom durchgeführt. Immerhin waren Chöre aus Italien, Griechenland und Lettland dabei. Das hat uns gefreut. Es gab aber auch viele Absagen, manche sehr kurzfristig. Müssen wir uns auf eine Zeit des Zauderns und des Zögerns einstellen?
Greiner: Wir haben das bei den meis­ten internationalen Veranstaltungen in den letzten Monaten erlebt. Auch bei Europa Cantat junior in Vilnius hatten wir wenige Anmeldungen aus dem Ausland, Litauen liegt ja auch näher an Russland und damit am Kriegsgeschehen in der Ukraine, da hatten viele Eltern Bedenken. Auch bei Veranstaltungen in den Niederlanden und Frank­reich mit Erwachsenen haben wir erlebt, dass die Anmeldungen geringer waren und vor allem sehr zögerlich kamen. Es scheint, dass viele sich nicht mehr trauen, lange im Voraus zu planen. Sie haben Angst, Geld zu verlieren oder sich anzustecken und in Quarantäne zu müssen. Dazu kommt die Angst vor dem Krieg und den finanziellen Folgen daraus. Auch bilaterale Kinder- und Jugendchor Begegnungen sind entsprechend schwerer zu planen. Für mich heißt das unter anderem: In Zukunft müssen wir multilaterale und internationale Veranstaltungen so planen, dass wir auch mit geringeren Teilnahmezahlen noch zurechtkommen können. Wir müssen insgesamt versuchen, flexibler zu werden.
AMJ: Bei der Finanzierung der Usedom-Begegnung ist erschreckend deutlich geworden, dass vieles teurer geworden ist. Unterkunfts-, Verpflegungs- und Transportkosten etwa sind deutlich höher als beim letzten Mal. Wie sieht das bei anderen internationalen Festivals aus?
Greiner: Dieses Problem besteht zurzeit für alle Organisatoren von Veranstaltungen. Wir bekommen zum Teil keine konkreten Angebote für 2023 von Caterern, weil diese sagen, dass sie nicht wissen, was Lebensmittel bis dahin kosten werden. Busunternehmen setzen gleich eine Klausel ein, dass der Preis noch steigen kann, das macht die Planung natürlich sowohl für die Organisationen als auch für Teilnehmende sehr schwierig.
AMJ: Im Rahmen des Aufholpakets Kulturelle Bildung im Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ bietet der AMJ Kinder- und Jugendchören Finanzhilfen für die Realisierung von Projekten an. Der Bedarf ist groß. Kann die ECA in diesem Bereich was tun?
Greiner: ECA hat in diesem Sinne kein Geld, um Chöre zu bezuschussen, außer den Geldern des BMFSFJ für deutsche Jugendchöre, die zu unseren Veranstaltungen reisen. Was wir im Rahmen des EU-finanzierten Projekts IGNITE machen können, sind kleine finanzielle Hilfen wie das Peer-to-Peer Programm, mit dem wir ChorleiterInnen unterstützen können die ins Ausland reisen, um mit einem Chor vor Ort zu arbeiten. Die Friends of the European Choral Association vergeben Stipendien aus dem Noël Minet Fund für die Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen. Aber das sind alles nur kleine Hilfen. Im Übrigen: Auch aus Deutschland höre ich häufiger, dass es problematisch ist, wenn nur Projekte gefördert werden, die Chöre aber zum Teil einfach finanzielle Hilfe für den regulären Betrieb bräuchten.
AMJ: Was sollten staatliche und kommunale Stellen unternehmen, um die ECA und den AMJ in ihren Bemühungen um den vokalen Austausch zu unterstützen?'
Greiner: Eine Forderung nach der Pandemie ist für mich eine größere Flexibilität bei der Förderung und Finanzierung, evtl. auch kürzere Antrags- und Entscheidungsfristen, da Entscheidungen kurzfristiger getroffen werden müssen.
AMJ: Die ECA setzte sich ja auch für die von der UN formulierten Nachhaltigkeitsziele ein. Eine Umsetzung bis 2030 bedeutet nicht nur ein Umdenken im Projektmanagement, sondern auch einen finanziellen Mehrbedarf. Wie lässt sich eine nachhaltige Chorarbeit realisieren, wenn alles teuer wird?
Greiner: Bei der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele im Kulturbereich stehen wir europaweit gesehen noch ziemlich am Anfang. Das Bewusstsein dafür ist in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. ECA hat im Rahmen des EU-geförderten Projekts IGNITE eine Strategie, mit der wir das Bewusstsein dafür erhöhen und Training anbieten möchten. Gleichzeitig ist es auch wichtig, die Balance zu halten und abzuwägen was sinnvoll ist und was nicht, oder was einfach nicht machbar ist. Die Frage des finanziellen Mehraufwands ist ein wichtiger Aspekt, Mehrarbeit im Team ein anderer. Auffangen lässt sich das nur, indem man andere Prioritäten setzt – eben auch etwas streicht. Für manche Projekte kann man EU-Förderung erhalten, zum Beispiel durch MusicAIRE, ein Projekt, das der Europäische Musikrat mitkoordiniert, aber es ist bei weitem nicht genug Geld für alle da. Dazu kommen aber auch noch andere Aspekte: Wenn man den internationalen Austausch fördern will, kann man nicht einfach auf das Fliegen verzichten. Dann könnten nur noch „privilegierte“ junge Menschen aus Ländern, die gut per Bus und Bahn erreichbar sind, sich untereinander austauschen. Andere, die auf Inseln leben, oder weit weg, oder in Ländern in denen es wenig öffentliche Verkehrsverbindungen gibt, werden dann außen vorgelassen oder man überlässt ihnen nicht nur die Kos­ten für den Austausch, sondern auch noch das schlechte Gewissen für den CO2-Ausstoß. Die Antwort darf also nicht pauschal heißen „nie wieder fliegen“, sondern „wie können wir Kinder- und Jugendchor-Begegnungen und den kulturellen Austausch im Allgemeinen nachhaltiger gestalten?“
AMJ: Vielen Dank für das Gespräch. Der AMJ wünscht Ihnen und der ECA alles Gute für die kommenden Monate.

EUROTREFF 2023 – Aufbruch
Internationales Festival für junge Chöre. 6. bis 10.9.2023, Wolfenbüttel
Anmeldung: www.eurotreff-amj.de

 

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