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Keine unerfüllten Ankündigungen

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Beim Festival „Sommer in Stuttgart“ überzeugten vor allem die kleinen, unspektakulären Stücke
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Da waren’s nur noch zwei: Hatten am Festival „Der Sommer in Stuttgart“ ursprünglich auch SWR und Staatsoper mitgewirkt – wehmütigen Angedenkens des weggesparten Forums Neues Musiktheater und des ISCM World New Music Festival – ist als Partner des Veranstalters Musik der Jahrhunderte mittlerweile nur noch die Akademie Schloss Solitude übrig. Doch man sollte sich nicht täuschen: Ohne die Solitude-Stipendiaten hätte das Stuttgarter Publikum in den letzten Jahrzehnten auf Vieles verzichten müssen. So etwa diesmal auf die Paetzold-Kontrabassblockflöte von Eva Reiter, die beim diesjährigen Festival als Interpretin in drei Stücken im Mittelpunkt stand, zwei davon eigene Werke.

Es klingt gar nicht nach Blockflöte, wenn das Instrument in Fausto Romitellis „Seascape“ mikrophonverstärkt faucht und klappert wie eine verrückt gewordene Maschine oder in Reiters eigenem Solostück mit Zuspielband ab und zu Dampf ablässt. Dem Mechanischen, Maschinellen gilt offenbar Reiters Vorliebe, die im Programmtext zum Ensemblestück „Alle Verbindungen gelten nur jetzt“ explizit an Heidelberger Druckmaschinen erinnert. Die Komposition zwingt ungewöhnliche Klänge von E-Gitarre, Cello, Schlagzeug und Reiters Flöte mittels eines vorproduzierten Bandes in ein gnadenloses Zeitraster, vorwärtstreibend wie ein Rockkonzert. Was im Umkehrschluss deutlich macht, wie oft Interpreten notierter Musik sich sonst um rhythmische Präzision herum mogeln. Der Gitarrist Hubert Steiner musste das Stück, das den zweiten Festivaltag eröffnete, im ersten Anlauf aus technischen Gründen abbrechen, und auch im zweiten hatten die gewiss versierten Mitglieder des Ensembles ascolta alle Hände voll zu tun, das halsbrecherische Tempo zu halten. Dennoch einer der Höhepunkte des Festivals.

Das Programm war stringent aufgebaut: Am Freitag Musiktheater-Miniaturen und Madrigale; am Samstag das ascolta-Konzert, überwiegend mit Werken von Solitude-Stipendiaten, dann ein großes Musiktheater-Projekt und schließlich ein nächtlicher Ausklang mit Violine und Gesang um zwei Werke von Peter Jakober, vorbereitet von ähnlich strukturierten Vorbildern von Giacinto Scelsi, Georges Aperghis und Klaus Lang. Allerdings blieb das Musiktheater enttäuschend. Sebastian Claren hatte sich „Kolik“ aus Rainald Goetz‘ Trilogie „Krieg“ vorgenommen. Andreas Fischer sitzt hinter einem schweren Schreibtisch, stößt einen Schrei aus, kippt sich Cognak hinter die Binde und eiert in Jackett und Unterhose über die Bühne, bis das Stück ohne Pointe verebbt. In Iris ter Schiphorts „Vergiss Salome“ balanciert Sarah Maria Sun auf einem Klebestreifen, steigert ihren im Text thematisierten Tanz im Dialog mit der Elektronik bis zu einem Höhepunkt, auf dem das Stück abrupt abbricht.

José-Maria Sánchez-Verdú hatte für seinen „Atlas“ den großen Saal des Theaterhauses geräumt, farbig illuminierte „Inseln der Utopie“ installiert und vier Gruppen des Solistenensembles Kaleidoskop an den Ecken des Saals pos-tiert. Drei Gongs am einen Ende und große Stahlplatten an den Längsseiten wurden über Lautsprecher bespielt. Zeitweise erklang der Gesang der Neuen Vocalsolisten aus Nebenräumen im Off. Der Bass-Saxophonist Andrés Gomis Mora und die Bariton-Oboistin Pilar Fontalba Jimeno wurden auf einer Plattform durch den Saal geschoben. Allerdings blieben die platten Sinnbezüge von Utopie als Abwesenheit und Insel unverbindlich. Die mäßige Akustik des Saals schluckte manche der außergewöhnlichen Klangfarben des exzellenten Ensembles: Die Kontrabassklarinette war gut, Harmonium und Theorbe kaum zu vernehmen. Fast eineinhalb Stunden lang ertönte kaum mehr als ein unaufhörliches großes Raunen.

Es waren viel mehr die kleineren, unscheinbareren Stücke, die überzeugten: Gegenüber Evan Gardners ausufernden „Subspace Variations“ für Flügel bezauberte Noriko Babas Miniatur mit flirrenden Gitarren- und Celloklängen. Oder auch die skurrile Maschinerie, die Sivan Cohen-Elias aus Styroporkugeln, zusammengeknüllten Notenblättern, Radiergummi-Klöppeln und ähnlichen Materialien mit einem vierköpfigen Ensemble in Gang setzte. Ansprechender als Lucia Ronchettis „Blumenstudien“, montiert aus Musik von Gesualdo und Texten von Goethe bis Angelus Silesius und Morgenstern, oder Clemens Gadenstätters durchkonstruiertes „Weh“ wirkte Francesco Filideis „Dormo molto amore“, ausgehend von einem Pedalton und einer schlichten großen Sekunde. Oder noch einmal Noriko Baba mit Kuckuck-Rufen im anarchischen, selbstreferentiellen „Gôshu“. Am meisten aber bestach Gabriel Dharmoo mit „nôtre meute“: Unmittelbar nachvollziehbare stimmliche Gesten wechselten mit pentatonischen und anderen Gesängen einer imaginären Folklore. Keine akademischen Konstruktionen, keine Ankündigungen, die nicht erfüllt wurden: schlicht lebendige Musik auf höchstem Niveau. Die Neuen Vocalsolisten waren hier ganz in ihrem Element.

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