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Kopf oder Zahl

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Eines haben wir mit Musik Beschäftigte der übrigen Menschheit voraus. Wir wissen, dass es in der Sowjetunion der 30er-Jahre nur zwei Menschen gab: Schostakowitsch, genannt Dmitri und Stalin, genannt Joseph.

Die beiden lebten zusammen in einem herrlichen Garten und hatten ein merkwürdiges Verhältnis aus Hass und Zuneigung. Joseph war stark und mächtig und hatte sich zum Diktator hochgearbeitet (und zwar so, wie man das unter Politikeraspiranten macht). Dmitri war klein und schmächtig und war Musiker geblieben, denn sonst war kein Job mehr übrig. Er war so klein, dass er keine Gefahr war für den großen Joseph und deshalb hatte die Macht auch eine gewisse Sympathie für die Musik. Denn dass Dmitri musikalisch war, das wusste Joseph. Der Kleine konnte sogar Beethovens Große Fuge auswendig auf dem Klavier spielen, wobei Joseph angesichts des eigenen bescheidenen Vermögens bei sich dachte: Wie gut, dass mir Dmitri nicht in die Karten gucken kann! Aber die große Fuge war ihm ohnehin zu formalistisch. Schade, dass Beethoven schon tot war, sonst hätte man da ein Exempel statuieren können. Formalistisch, das war so etwas wie das Lieblingswort von Joseph. Das war der Apfel vom Baum der Versuchung, und wehe, wenn Dmitri davon naschen wollte!

Manchmal freilich rutsche der kleine Dmitri auch aus und schlitterte hin zum Baum mit dem formalistischen Apfel. Da wurde Joseph streng und ermahnte Dmitri, indem er auf die sibirischen Weiten außerhalb des herrlichen Joseph-Gartens verwies. Oder gar auf seinen Kopf. Da wurde Dmitri auch wieder ganz lieb und schrieb Lieder von Wäldern ganz unformalistisch und zum Gefallen des Großen. Dmitri aber war auch listig und so schmuggelte er immer wieder formalistische Äpfelchen in seine Musik, so leise und so versteckt, dass die dem weiten Blick des Großen verborgen blieben. So hatte jeder das seine und beide waren glücklich oder unglücklich und lebten darin bis ans Ende ihrer Tage. Schön, ein Märchen vom großen Joseph und vom kleinen Dmitri. Aber da fehlt doch was?! Ja richtig, die Moral. Die aber ist ganz einfach: Der Joseph war schuld! Es gab keine hinterhältigen Intrigen, nicht das Machtgeschubse der Kleingeister, nicht die Trägheit der Menge, keinen Neid im Gerangel um Positionen. Nicht das ganze gärende Umfeld, das eine Gesellschaft wie giftige Hefe durchzieht und eine Dynamik der Dummheit erzeugt (konnte ja gar nicht sein, denn die beiden waren ja allein). Der Große war böse und Schluss! Sonst hat niemand Schuld und man muss auch gar nicht weiter fragen. So wird alles ganz einfach.

Und wenn manche heute zu sehen meinen, dass unsere Massenkultur gar nicht so viel anders tickt als dies im Garten beim großen und bösen Joseph der Fall war, dann irren sie eben. Der Baum mit dem formalistischen Apfel ist ein für alle Male gefällt – und überhaupt zählt nur noch, was gefällt. Das aber ist gerecht, weil abzählbar, also demokratisch. Da brauchen keine falschen Äpfelchen mehr untergejubelt zu werden, denn alles ist frei und darf sich tummeln. Unsere Schere, die da einiges gerade stutzt (das muss eben sein, denn sonst: Anarchie!), gehorcht einzig dem objektiven Diktat der Zahl. Wer will da von einer Macht des Großen über den Kleinen sprechen? Solches ist längst ins Reich des Märchens verbannt. Na, dann ist ja alles gut und wir können in Ruhe und ohne Grimm weiterschlafen. Wie beruhigend so schöne Geschichten doch sein können!

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