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Foto: Thomas Müller/DNT Weimar
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Mit der Sprache des Tanzes eigene Grenzen überwinden

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Entwicklungsprozesse von Jugendlichen beim Projekt „Grenztänzer“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
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Der 2004 veröffentlichte Dokumentationsfilm „Rhythm is it!“ löste eine deutschlandweite Welle von Tanzprojekten mit jugendlichen Laiendarstellern und professionellen Musikern aus. Kaum eine Stadt entging diesem Trend. So folgten unter anderem „Daphnis et Chloé“ in Berlin, „come to move“ in Köln, „Spring in Autumn“ in Leverkusen, „Focus on Youth“ in Hamburg, „Das Treffen“ in Bremen, „Across a Clear Blue Sky“ in Detmold, „inMotion!“ in Aachen, „Zeitsprung – Zu Brahms tanzen“ in Bielefeld, „Anna tanzt“ in München und „Zukunft n.o.w.“ in Saarbrücken.

Angesichts der Vielzahl von ähnlichen Produktionen scheint der persönliche Nutzen für die Teilnehmer solcher Projekte enorm groß. Zudem haben Projekte wie „Rhythm is it!“ gezeigt, wie sie, obwohl im kulturellen Bereich die Gelder stetig knapper werden, extrem hohe organisatorische und finanzielle Hürden überwinden können. Wie groß ist der Nutzen solcher Projekte jedoch tatsächlich? Welche nachhaltige Wirkung wird bei den teilnehmenden Jugendlichen erzielt? In einer empirischen Untersuchung wurde dieser Fragestellung im Rahmen des Projektes „Grenztänzer“ am Deutschen Nationaltheater Weimar nachgegangen.

„Grenztänzer“ war eine multimediale Tanztheaterinszenierung mit 124 Weimarer Jugendlichen, den Videokünstlern „YouAreWatchingUs“ und der Staatskapelle Weimar zu dem Orchesterwerk „Harmonielehre“ von John Adams. „Das Wunder von Weimar“, wie die Thüringer Allgemeine schrieb, unterscheidet sich zwar in seiner Konzeption und Durchführung erheblich vom Berliner Projekt (weitere Informationen sind auf der unten angegebenen Webseite zu finden), die Grundelemente blieben jedoch gleich: Tanz, Klassische Musik, ein professionelles Orchester und jugendliche Laientänzer aus überwiegend sozial problematischem Umfeld wurden zu einem einzigartigen Projekt zusammengeführt. Insgesamt acht Schulklassen nahmen an Grenztänzer teil, davon 40 Förderschüler, 58 Regelschüler (die Regelschule umfasst in Thüringen Haupt- und Realschüler in einer Schulform) und 30 Gymnasiasten im Alter von 13 bis 17 Jahren. Alle Schüler wurden zu Beginn des siebenwöchigen Probenzeitraums, kurz vor der Premiere und zwei Wochen nach dem Projekt schriftlich befragt. Auszüge der prägnantesten Ergebnisse dieser Befragung werden im Folgenden dargelegt. (Der ausführliche Bericht ist in der Bibliothek der Hochschule für Musik Detmold einsehbar oder auf Nachfrage erhältlich: albrecht.ziepert [at] uni-erfurt.de (albrecht[dot]ziepert[at]uni-erfurt[dot]de))

Perspektiven verändern

Noch vor Beginn des Projektes war eine der ersten Fragen in allen Klassen: „Zu welcher Musik tanzen wir? Hoffentlich nichts Klassisches (…).“ Die Befragung hat gezeigt, dass 59 Prozent der Jugendlichen das Hören Klassischer Musik langweilig finden und 56 Prozent Klassische Musik überhaupt nicht mögen. Mehr als 60 Prozent der Schüler hören lieber Hip-Hop sowie Techno und House, lediglich fünf Schüler zählen Klassik zu ihrer Lieblingsmusik. Nichts desto weniger hat sich der Beliebtheitsgrad der Staatskapelle Weimar im Laufe des Projektes stark ins Positive gewandelt. Von durchschnittlich 0,39 (auf einer Skala von –2 bis +2) zu Beginn der Proben auf 1,00 nach Ende des Projektes. Das Nationaltheater erreichte den gleichen Wert. Im letzten Fragebogen bestätigten 37 Prozent der Schüler, dass „Grenztänzer“ ihnen Lust auf Theater gemacht habe, 21 Prozent hätten Interesse für Neue Musik entwickelt, 16 Prozent ein besseres Musikverständnis erlangt und 29 Prozent ein besseres Rhythmusgefühl.

Deutlich fällt auch die gesteigerte Beliebtheit des Tanzens, insbesondere bei den Jungen, aus. Von anfangs 2 Prozent wurde Tanzen nach Abschluss des Projekts zum Hobby von 25 Prozent der Jungen, bei den Mädchen zeigte sich eine Steigerung von 36 auf 52 Prozent. Im Verlauf des Projekts wurde für knapp 60 Prozent aller Schüler Tanzen zu einem wichtigen Bestandteil im Leben.

Eine neue Sprache erlernen

Zwar hatten alle Schüler von Beginn an Auffassungen davon, wie Tanz auszusehen hat, aber ihren Körper beherrschten sie nicht. Keiner der Schüler hatte eine Vorstellung, wohin „Grenztänzer“ führen würde, folglich lernten alle gemeinsam etwas Neues und Unbekanntes. „Grenztänzer“ hat für 40 Prozent der Schüler, nach Aussage der Fragebögen, „ihr Leben verändert“. Insgesamt 62 Prozent der Schüler gaben an, durch das Projekt ein stärkeres Selbstvertrauen und/oder Selbstbewusstsein gewonnen zu haben. Das Medium Tanz spielte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Kein anderes Medium hätte die Schüler in Verbindung mit Musik zu ihrem Körper und damit zu sich selbst bringen können. „Ich habe einfach der Musik zugehört, die Augen geschlossen und angefangen, mich zu bewegen“, äußerte einer der Solisten in einem Interview. Unter dem vom Choreographen Ayman Harper aufgestellten Leitsatz: „Es gibt keine richtigen und falschen Tanzbewegungen“, lernten die Jugendlichen, mit ihren Körpern zu „sprechen“.

Um diese neue Sprache nutzen zu können, bedurfte es extrem konzentrierten Trainings, welches jeden einzelnen Schüler bis an seine physischen und psychischen Grenzen brachte. Abzubrechen wäre in vielen Momenten einfacher gewesen, aber alle Jugendlichen blieben dabei und schafften es, ihre persönlichen Hürden zu überwinden. Jeden Tag eigneten sie sich die einzigartige Sprache Tanz ein Stück mehr an, um schließlich auf der Bühne zu bestehen und dem Publikum ihr Gelerntes zu zeigen. „Was ich über Grenztänzer schon immer sagen wollte ist, dass sie cool sind und dass sie etwas können“, schrieb ein Schüler im letzten Fragebogen. Etwas Neues wirklich gut zu können – dieses Erlebnis ist nicht nur für Förderschüler eine ungewohnte Erfahrung. Die Bildung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls aller Teilnehmer liegt in der Erfahrung, etwas gelernt zu haben und dieses zu beherrschen.

Vorurteile abbauen

Das Erleben von Gemeinschaft durch die Überwindung sozialer Grenzen und der Abbau von bestehenden Vorurteilen zwischen den unterschiedlichen Schulen galten als eines der wichtigsten und schwierigsten Ziele des Projektes. Zu Beginn waren die bestehenden Vorurteile enorm, Förderschüler wurden von allen anderen Schülern als stark negativ eingeschätzt. Einige Jugendliche drohten, beim Zusammenarbeiten mit diesen Schülern mit körperlicher Gewalt oder zumindest mit Verweigerung. Bereits im Verlauf der Proben wandelten sich die Negativurteile durchweg ins Positive. Bis zur Premiere konnten manche Vorurteile dennoch nicht gänzlich abgebaut werden: 40 Schüler waren nach Beendigung des Projektes noch der Meinung, dass sich ihre Vorurteile zum Teil gegenüber anderen Schülern bestätigt hätten.

Dagegen steht die Aussage fast aller Schüler (82 Prozent), durch „Grenztänzer“ neue Freunde aus anderen Klassen gewonnen zu haben. Immerhin 54 Prozent der Schüler fanden, dass „Grenztänzer“ ihnen geholfen habe, Teil einer Gruppe zu sein; bei 53 Prozent hat sich der Teamgeist gestärkt.

Diese Aussagen treffen im besonderen Maße auf das Verhältnis zur eigenen Schulklasse zu. Insgesamt lässt sich eine Verbesserung der Einschätzung der eigenen Schule (von 0.01 auf 0.36), der eigenen Klasse (von 0.55 auf 0.80) und der Klassenlehrerin (von 0.22 auf 0.51) erkennen, so finden 48 Prozent der Schüler, dass sich durch „Grenztänzer“ der Klassenzusammenhalt verstärkt hat. Ursache für den gestärkten Zusammenhalt ist, laut Be-  obachtung der Lehrer, ein engeres Vertrauensverhältnis zwischen den Schülern sowie auch zu den Lehrern.

An die eigene Lernfähigkeit glauben

Stieg die Identifikation mit der eigenen Schule, den Mitschülern und der Klassenlehrerin durch das Projekt deutlich, so blieb das Interesse der Jugendlichen am Unterricht als Vermittlungsform dennoch durchwachsen. Zwar sank die Zahl Schüler, die nicht gern in die Schule gehen von 26 auf 12 Prozent – die ausgeprägte Unlust der Jugendlichen am Lernen (47 Prozent) wurde durch das Projekt jedoch nicht beeinflusst. Deutlich steigerte sich dagegen der Glaube an die eigene Lernfähigkeit. „Stolz bei Lob und Anerkennung erfahren einige Schüler im Schulalltag nie“, schrieb eine Lehrerin. 88 Prozent der Schüler sind nach dem Projekt der Meinung, „Wenn ich will, kann ich ein Ziel erreichen.“ 83 Prozent teilten die Ansicht, sich durch Anstrengung in der Schule verbessern zu können. Kaum einer der Schüler hätte zu Beginn geglaubt, wozu er am Ende in der Lage sein würde. Der Glaube an die eigene Leistungs- und Lernfähigkeit ist Grundlage der Lernmotivation, nach dem Projekt fanden es 75 Prozent der Schüler „cool“, neue Dinge zu lernen. Gesteigert wurde darüber hinaus die Konzentrationsfähigkeit der Schüler, ihre Kritik- und Konfliktfähigkeit sowie Zuverlässigkeit. Schüler kamen trotz gesundheitlicher Einschränkung zu den Proben, private Interessen wurden gegenüber dem Projekt zurückgestellt.

Verhaltensmuster überwinden

„Grenztänzer“ war für jeden Schüler ein individuelles Erlebnis. Je mehr sich Schüler öffneten, je mehr sie es im Verlauf des Projektes schafften, feste Verhaltensmuster abzulegen, desto größer waren die Entwicklungsprozesse. Schüler, die Anfangs mit einer Abwehrhaltung und großen Vorbehalten – vermutlich aufgrund der verpflichtenden Teilnahme – mitwirkten, änderten ihre Meinung im Verlauf des Projektes ins Positive. „Was soll man mit so ’nem Scheiß“, hieß es vielfach am Anfang. Lediglich fünf Schülern gefiel „Grenztänzer“ am Ende nicht. Ihren persönlichen Nutzen haben alle Fünf nach eigener Angabe dennoch aus dem Projekt gezogen.

Das Medium Tanz erwies sich als Schlüssel zur Überwindung von Verhaltensmustern und persönlichen Grenzen, wie auch als Schlüssel zur Weiterentwicklung der Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz. Hinter der gesprochenen Sprache kann man sich verstecken, hinter der Sprache des Körpers nicht. Das Erlernen dieser Sprache führte die Schüler zu sich selbst. Die Stärkung des Selbstbewusstseins durch das Projekt war somit groß. Entscheidend trug die prozessorientierte Arbeit des künstlerischen Leitungsteams dazu bei – die Inszenierungsentwicklung durch Tanzbewegungen, welche größtenteils in den Proben mit den Schülern entstanden. Treffend schrieb die Thüringer Allgemeine Tageszeitung nach der Premiere: „Sie tanzen was sie sind.“ Angesichts der Untersuchungsergebnisse ist von einer großen nachhaltigen Wirkung des Projektes auf die Entwicklungsprozesse der Schüler auszugehen. Inwieweit die Ergebnisse auch auf vergleichbare Tanzprojekte unter Einbezug Klassischer Musik übertragbar sind, bleibt offen.

Albrecht Ziepert ist freischaffender Musiker und Musikvermittler. 2008 übernahm er die Produktionsleitung von „Grenztänzer“ am Deutschen Nationaltheater Weimar.

grenztaenzer.de

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