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Musik als Musik oder als Genussmittel

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Musikunterricht zwischen Gegenstand und Funktion · Von Christoph Richter
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Zu Beginn sei auf ein seemännisches Problem der Musikpädagogik aufmerksam gemacht. Auf die berüchtigte Meeresenge zwischen Messina auf Sizilien und dem italienischen Festland: Soll Musikunterricht ein sinnvolles und sinnstiftendes Unternehmen sein, so muss er versuchen, heil zwischen der Skylla und der Charybdis hindurch zu segeln, musikpädagogisch formuliert: zwischen dem Ungeheuer des für viele Schüler erbarmungslos fordernden Sachanspruchs der Musik und der Verführung einer unverbindlichen Spaß- und Erlebnispädagogik.

Der Musikunterricht und die ihn absichernden konzeptionellen Überlegungen haben die Neigung, in zwei Richtungen aus- einander zu streben. Die eine Tendenz fordert die Wahrung des Sachanspruchs als Grundlage und als Maß musikalischer Bildung. So verstanden zielt Musikunterricht vornehmlich auf Wissen von Sachverhalten und Fakten und auf ihre Anwendung in theoretischen und praktischen Zusammenhängen. Die andere Tendenz schlägt sich auf die Seite des unbekümmerten Machens, des Spaßes und des Lustgewinns als Ziel und Treiben des Musikunterrichts.

Damit diese gegensätzlichen Tendenzen sich nicht zu weit voneinander entfernen, ist es nützlich, sie sich nicht so sehr als in Opposition stehende Extreme vorzustellen, sondern lieber als veränderliche Orte auf einer Skala, auf welcher Musikunterricht angesiedelt werden kann.

Jede Tendenz des Musikunterrichts und jede Konzeption könnte wie ein beweglicher Schieber an einen bestimmten Punkt auf dieser Skala geschoben werden, mehr oder weniger weit voneinander entfernt. So betrachtet stünde Musikunterricht in einer lebendigen und fruchtbaren Spannung zwischen den gegensätzlichen Tendenzen. Um solche Rasterpunkte zu bestimmen, seien zunächst beide Tendenzen erläutert. Sodann möchte ich zu zeigen versuchen, dass und wie sie aufeinander angewiesen sind, zum Nutzen ihres gemeinsamen Auftrags. Sie sind, das ist meine Überzeugung, wie siamesische Zwillinge miteinander verknüpft. Wer nämlich Musik wirklich mit Freude genießen und erleben will, wird sie auch in ihren Sachverhalten ernstnehmen.

Musikunterricht in der
Spaßgesellschaft

Musikunterricht soll Spaß machen. Unter dieser Flagge treibt der musikpädagogische Vergnügungsdampfer zu den Untiefen und verführerisch saugenden Strudeln der Charybdis. Auf dem Kreuzfahrtprogramm stehen unverbindlicher oder gar blinder Aktionismus, die beliebige Aneignung jedweder Musik und Verzicht auf Genauigkeit der Betrachtung und des Ergründens (gewöhnlich musikpädagogisch als handlungsorientiert sanktioniert).

Die Landnahme des Musikunterrichts durch die Spaßgesellschaft wird von unterschiedlichen Bedingungen und Tendenzen genährt, von der Ratlosigkeit unzureichend ausgebildeter und unsicherer Lehrer gegenüber unbändigen oder gelangweilten Schülern, vom partiellen Versagen der Musikpädagogik im Grundschulbereich (was eine aufbauende und zugleich lebendige Musikalisierung betrifft), von den Verführungen der zerstreuenden und neurotisierenden Medienspäße, vom Mangel an hingebender Intensität, an verbindlicher Nuancierung und an persönlichem Engagement im Umgang mit den Dingen und mit Situationen. Hinzu kommen zunehmend familienlose Bildungs- und Lebensverhältnisse, welche einen frühzeitigen und deshalb wirksamen Umgang mit Musik erschweren.

Diese Praxis oder dieses Elend reduziert den Musikunterricht auf Ausgleichsfunktionen und treibt ihn in die Fänge wirtschaftlicher und technologiegläubiger Bildungsvorstellungen. Sie tendieren mit Macht und Einfluss zum Fit-Machen für Brauchbarkeit und Mithaltenkönnen im globalen Wettbewerb, für den digitalen Kapitalismus (Peter Glotz), zu beflissenem Funktionieren in den technischen Wissenschaften, in deren Forschungen und in Wirtschaftsunternehmen.

Jene, die dies für Menschenbildung halten, finden offene Politikerohren und sind sogar für fragwürdige Versprechungen von Transfereffekten anfällig, welche eine Steigerung von Intelligenz und Sozialverhalten durch Musizieren verheißen. In solchen Bildungskonzepten werden die Fahrrinne und die Manövriermöglichkeiten für die Künste eng und enger.
Wenn es schlecht läuft, wird in der neumusischen Spaß- und Spielecke elektronisch oder anders geklimpert, laienhaft musicalmäßig agiert, mit Computern Musik gezimmert und im Internet inhaltsresistent und reflexionsfrei herumgesucht – in einer kurzatmigen Didaktik mit Wegwerfmentalität. Wenn es besser läuft, werden ansehnliche Prozesse und Produkte hervorgebracht. Das freilich setzt die Beschäftigung mit musikalischen Details und Sachverhalten voraus.

Mit der Musik in einen
Dialog treten

In beiden Fällen aber fragt Musikpädagogik kaum nach Musik als jenem verläßlichen Partner, zu welchem Menschen in einen Dialog, oder um mit Martin Buber zu reden: „in ein verbindliches dialogisches Verhältnis treten können“. Zum Begriff des Partners gehört, ihn als Gegenüber kennen- und verstehen zu lernen, ihn in seiner Unverwechselbarkeit zu akzeptieren; danach zu fragen, woher er kommt, was er mitbringt (zum Beispiel aus früheren Zeiten oder fernen Völkern) wie er denkt und sich ausdrückt, aber auch, welche Widerstände er der Aneignung entgegensetzt, mit welcher Fremdheit und Widerspenstigkeit des Partners es sich auseinanderzusetzen gilt, damit er Menschen stärker und reicher zu machen vermag. Zum Partner wird ein Gegenüber, wenn man sich auf ihn fragend einlässt, und nicht etwa schon, wenn man ihn – gleichsam mit egoistischem Zugriff – benutzt oder ihn sich aneignet, ohne jene Rücksicht, die nach dem anderen fragt.

Wo das nicht (mehr) pädagogisch und menschlich Geltung hat, also nicht gelernt, ständig geübt und vor allem zur selbstverständlichen Haltung ausgebaut wird, da werden auch das eigene Tun und Leben unverbindlich – spaßig oder gewaltsam bis skrupellos. Diese Kritik gilt auch für jene Art von lebensweltorientiertem Unterricht, der die lebensweltlichen Begriffe und Bezüge nicht aus der Struktur und Deutung der herangezogenen Musik erschließt, sondern Musik lediglich als illustrierende Grundierung benutzt. Ich habe deshalb an anderem Ort als Bedingung für einen sinnvollen lebensweltorientierten Musikunterricht die folgende Doppelforderung erhoben, den Begriff des Gesprächs als Beispiel wählend: Aus einer Musik soll erschlossen werden, was Gespräch ist oder sein kann; und aus dem Begriff ,Gespräch‘ soll erarbeitet werden, was Musik ist und wie sie sein kann.


Christoph Richter: „Lebensweltliche Orientie-rung des Musikunterrichts –nur eine Utopie?“ In: Musik und Bildung, Heft 6/1993, S. 24–29

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