Hauptrubrik
Banner Full-Size

Musik bewegt und sie braucht viel Platz

Untertitel
Über Sonntagsreden, Montagshandeln und Analyseräusche &#183
Publikationsdatum
Body

Bundespräsident Johannes Rau will mit dem Projekttag „Kinder und Musik“ am 9. September in Berlin den Startschuss für ein breites gesellschaftliches Engagement für musisch-kulturelle Jugendbildung setzen. Am Montag, den 8. September, wird der Deutsche Musikrat unter Bezug auf diesen Projekttag den Kongress „Musik bewegt“ in Berlin veranstalten. Zur aktuellen musikpolitischen Situation im Vorfeld dieser Veranstaltungen nimmt Vizemusikratspräsident Christian Höppner Stellung.

Meine mit reicher Lebenserfahrung gesegnete Gemüsehändlerin auf einem Berliner Markt empfing mich beim letzen Einkauf mit der Frage, „Wat brauchen wir drei Opernhäuser, wenn der Botanische Garten geschlossen werden soll?“ Unabhängig von den Berlinspezifischen Problemen mangelnder Profilbildung und Vernetzung im Kulturbereich hat sie damit auf den Punkt gebracht, wie wir den Blick in dem gesellschaftlichen Diskurs um Prioritäten weiten müssen. Mit dem Standardrepertoire wohlformulierter Überzeugungen und Begründungen allein werden wir diese Fragestellung wohl nicht mehr beantworten können, zumal das Engagement für Bildung und Kultur fälschlicherweise mehr und mehr mit Lobbyistentum gleichgesetzt wird. Dabei haben wir den großen Standortvorteil, von der Position einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung her argumentieren zu können, die Bildung und Kultur einvernehmlich als grundlegende Lebenselemente unserer Gesellschaft definiert. In diesem Sinne ist Musikpolitik Gesellschaftspolitik, weil sie das Ganze über die Vertretung von Einzelinteressen stellt und sich ausschließlich an der Frage „was nutzt es unserer Gesellschaft“ zu orientieren hat. Selbst die Vertretung von Einzelinteressen, etwa durch die Fachverbände, kann und sollte – mehr als bisher – in diesen Zusammenhang gestellt werden. Damit wächst unter der Prämisse, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, ein erweitertes Verantwortungsbewusstsein für unser Gemeinwesen, das der Legitimation unserer Arbeit eine neue Qualität verschafft.

Natürlich wird über Inhalte und Umsetzungsformen gestritten, aber ich kenne niemanden, der die Bedeutung einer fundierten Bildung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft in Frage stellen würde. Gerade in einer Zeit, in der sich das Menetekel einer gesellschaftlichen Krise, die nicht nur ökonomisch zu begründen ist, abzeichnet, gibt es den Konsens, in Bildung zu investieren. Wenn sich aber diese Gesellschaft einig ist, warum setzen wir dann diese Erkenntnisse und Überzeugungen nicht um?

Zum einen bestimmt die Vertretung von Partikularinteressen noch immer das politische Alltagsgeschäft und behindert damit den Blick auf das Ganze. Die vorläufig gescheiterte Fusion der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder ist zwar kein Beinbruch und eröffnet noch einmal die Chance, gravierende Geburtsfehler für einen neuen Anlauf zu korrigieren, belegt aber auch beispielhaft die Fokussierung auf die Durchsetzung von Partikularinteressen.

Zum anderen verstärkt sich seit geraumer Zeit die Tendenz, dass Themen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse, die in unserer Gesellschaft nicht strittig sind, immer neu analysiert werden und – wo möglich – wissenschaftlich bewiesen werden. Die Wirkungen von musischer Bildung auf die Persönlichkeitsbildung insbesondere von Kindern und Jugendlichen sind seit der Antike bekannt. Dennoch wiederholen wir gebetsmühlenartig die alten Argumente in immer neuen Variationen. In diesem Analyserausch aus stets neuesten Untersuchungen, Studien, Gutachten und Prognosen verlieren wir den Blick für das Ganze und vernetzen nur unzureichend die Datenflut der soziokulturellen Entwicklung. So befinden wir uns in der Endlosschleife einer dauerhaften Analyse- und Begründungsphase. Daraus entsteht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Sonntagsreden und Montagshandeln. Der vielzitierte Satz von Otto Schily „Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit“ und der dennoch dramatische Rückbau musischer Bildung in allgemein bildenden Schulen und Musikschulen ist symptomatisch für unsere gegenwärtige Situation. Es ist unerlässlich, Verantwortung für Überzeugungen zu übernehmen, dass heißt, nicht nur diese Position öffentlich zu äußern, sondern gemeinsam mit den relevanten Partnern nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese Überzeugung mit Leben zu füllen. Die Gemeindefinanzreform ist ein weiterer Prüfstein gemeinsam getragener Verantwortung, um die Voraussetzung für den Erhalt kommunaler Infrastrukturen im Bildungs- und Kulturbereich zu schaffen. Die Finanzierung der Sachkosten zur Einführung der Ganztagsschulen durch den Bund ist ein Baustein, kann aber keine Wirkung entfalten, wenn die Frage, woher das zusätzlich benötigte Fachpersonal kommen und wer es bezahlen soll, mit dem Hinweis auf die Kulturhoheit der Länder in der Sackgasse landet. Wenn aber das föderative System zum Pingpong-Spiel versammelter Verantwortungslosigkeit degeneriert, weil immer der andere Schuld ist, dass ich nicht handeln kann, führen wir das Prinzip einer partnerschaftlichen Gesamtverantwortung für unser Gemeinwesen ad absurdum.

In dieser Situation wächst allen, die im Kultur- und Bildungsbereich Verantwortung tragen, seien es Kulturschaffende, bürgerschaftlich Engagierte oder Politiker, die Aufgabe zu, Zusammenhänge deutlich zu machen. Die politische Kraft der 68er-Generation kann dabei in ihrer Wirksamkeit durchaus Vorbild für die Bürger sein, die den Mehltau orientierungsloser Scheinaktivitäten durch den Mut zu Prioritäten im politischen Alltag ersetzen wollen.

Der Bundespräsident hat an vielen Orten sehr deutlich zum Thema Bildung und Kultur Stellung bezogen. Ohne den Geschichtsschreibern vorgreifen zu wollen, lässt sich jetzt schon sagen, dass wir mit Johannes Rau einen Kulturbundespräsidenten haben, der mit seinem Engagement für Bildung und Kultur Brücken gebaut und Wege in die Zukunft aufgezeigt hat. Damit ist die Berufungsinstanz für politisches Handeln, von der Kommune bis zum Bund, geschaffen. Seine Idee, mit einem Projekttag „Kinder und Musik“ am 9. September an seinem Berliner Amtssitz den Startschuss für ein breites gesellschaftliches Engagement für musisch-kulturelle Jugendbildung zu setzen, ist eine einmalige Chance. Der Deutsche Musikrat wird unter Bezug auf diesen Projekttag am Montag, den 8. September einen Kongress zu diesem Thema unter dem Titel „Musik bewegt“ in Berlin veranstalten. Mit einer Podiumsdiskussion und vier Panels zu den Themenbereichen musikalische Bildung, Musikvermittlung, Musikforschung und musikpolitische Handlungsfelder sollen Zusammenhänge deutlich und Wege aus der Krise sichtbar werden – getragen von der Erfahrung namhafter Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Angesprochen ist jeder, der sich für diesen Bereich verantwortlich fühlt.
Der Blick für das Ganze eröffnet die Chance einer politisch aktiven Bürgergesellschaft im Sinne von Teilhabe und gemeinsamer Verantwortung – eine wahrhafte Perspektive, sich jetzt einzumischen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!