Banner Full-Size

Musik ohne Glyphosat

Untertitel
Interview zum 80. Geburtstag des Komponisten Klaus Hinrich Stahmer
Publikationsdatum
Body

Der 1941 in Stettin geborene Komponist und Musikwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Hinrich Stahmer lehrte von 1969 bis 2004 an der Würzburger Hochschule für Musik, leitete von 1989 bis 2004 das Würzburger Studio für Neue Musik des Würzburger Tonkünstlerverbandes, gründete das Würzburger Festival „Tage der Neuen Musik“, kuratierte Ausstellungen in ganz Deutschland, war Präsident der deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und ist Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Für den Tonkünstlerverband Bayern übernahm er von 2010 bis 2016 die Projektleitung der Notenedition „Neue Töne“. Franzpeter Messmer sprach mit ihm über sein Leben und Werk.

neue musikzeitung: Herr Stahmer, Sie wurden während des Krieges geboren, ihre Eltern sind aus Stettin nach Marburg geflohen und Sie wuchsen in einem Dorf als Flüchtlingskind auf. Hat Sie das geprägt?

Klaus Hinrich Stahmer: Ich erinnere die Bombenangriffe, Bunkernächte und Flucht und habe am eigenen Leib erfahren, was es heißt, als Flüchtling nicht willkommen zu sein. Das bestimmt wohl auch mein Lebensgefühl. Das heißt, ich kann nachempfinden, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Das Schicksal der Flüchtlinge unserer Tage geht mir nahe. Ich weiß aber auch, dass es die Deutschen waren, die den Krieg über Europa gebracht haben und trage neben der Scham eine abgrundtiefe Bereitschaft zur Versöhnung und Verständigung in mir.

Künstlerische Arbeit

nmz: Was bedeutet das für Ihre künstlerische Arbeit?

Stahmer: Zum einen habe ich Projekte in Gang gesetzt, wo es um die Begegnung mit der Musik von Opfern des Naziregimes ging. Wiedergutmachung ist ein schlechtes Wort hierfür. Was geschehen ist, lässt sich nicht wieder „gut“ machen. Es bleibt ein Verbrechen. Aber ich habe – und das ist mein zweiter Weg – Stücke komponiert, die den Hörer nachdenklich stimmen und die eindeutig Stellung zu dem Unrecht beziehen.

nmz: Zum Beispiel?

Stahmer: „Mazewot“ nach Grabinschriften auf einem jüdischen Friedhof, oder auch „…che questo è stato…“. Hier habe ich viele kleine Momentaufnahmen aus Israel mit einem Gedicht des in Würzburg geborenen und seit 1935 in Palästina/Israel lebenden Jehuda Amichai zu einem Memorandum verbunden, Anklage und Hoffnung in eins.

nmz: Die Nachkriegszeit erlebten viele Ihrer Generation als Zeit der Öffnung für neue kulturelle Horizonte.

Stahmer: Ja, genau so habe ich es auch empfunden. Ich erinnere mich an meine Besuche in den Kulturzentren der Amerikaner und Engländer, dem „Amerikahaus“ und der „Brücke“. Da konnte ich hören, sehen und lesen, was es in meinem Elternhaus nicht gab. Auf den Buchrücken und Plattenhüllen standen so andere Namen als ich bis dahin kannte.

Jazz und Hemingway

nmz: Was hat Sie damals am meisten interessiert?

Stahmer: Jazz, Hemingway, überhaupt alles was „modern“ war, aber auch schon damals die traditionelle Musik Japans. Ich war einfach neugierig und voller Kritik gegenüber dem scheinbar Vertrauten. Daran hat sich bis heute bei mir wohl nichts geändert…

nmz: Das Violoncello ist Ihr Instrument. Sie spielten es ab dem 12. Lebensjahr und lernten dabei die große klassische und romantische Literatur kennen und lieben. Doch als junger Student im englischen Dartington, dann in Trossingen, Hamburg und Kiel begeisterten Sie sich für die Neue Musik. Welche Rolle spielt in ihrem Leben Klassische Musik und in welchem Verhältnis sehen Sie diese zur Neuen Musik?

Stahmer: Ich habe meine Dissertation zur Promotion über Brahms geschrieben und habe in Würzburg an der Musikhochschule ein Leben lang musikgeschichtliche Fächer unterrichtet. Das war mein berufliches Standbein. Als Cellist habe ich regelmäßig bei Konzerten mit Werken von Bach und Mozart mitgewirkt. Liebe und Ehrfurcht für die großen Werke ist eine Voraussetzung meiner kompositorischen Arbeit. Allerdings ist das ein Spagat, den man nur schwer aushält: Auf der einen Seite die Detailkenntnis in puncto Tradition und das Verständnis fürs Alte, und dann der Versuch, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Das erfordert viel Selbstsicherheit und seismografisches Beobachten, vor allem aber den Mut zum Eigenen, zum Vorher-nie-Gehörten, zum Experimentieren.

nmz: Sie bezeichneten sich einmal als Grenzgänger. Dabei führte Sie Ihr Weg über die Zwölftonmusik, die elektronische Musik, die politisch engagierte Musik, die synästhetische Musik hin zur sogenannten Weltmusik. Hat das etwas mit Heimatlosigkeit zu tun?

Stahmer: Da haben Sie vielleicht Recht. Auch für mich ist es aus der Rückschau erstaunlich: dieser weite Weg von Schönberg-Adaptionen über Berio/Boulez hin zu einer Musik mit chinesischen Wurzeln. Das kommt wohl daher, dass man alles in Frage stellt.

nmz: Ist Ihr Weg als Komponist ein Spiegel der wichtigen Zeitabschnitte nach 1945 – also der radikalen Abkehr von der Tradition des 19. Jahrhunderts in der Zwölftonmusik, der Politisierung von Kunst im Umfeld der 68er Bewegung in Ihren politisch engagierten Werken und der Globalisierung in Ihren Kompositionen für außereuropäische Instrumente?

Die Dinge aufmerksam beobachten

Stahmer: Natürlich sind all die von Ihnen genannten Trends und Phasen der neueren Musik nicht spurlos an mir vorübergegangen, und doch sehe ich mich eher als jemand, der diese Dinge aufmerksam beobachtet hat, um sie im Sinne einer persönlichen Weiterentwicklung dann auch wieder hinter sich zu lassen. Ich habe mich immer um eine eigene Aussage und die dazu passende Tonsprache bemüht.

nmz: Sie komponieren für das chinesische Instrument Sheng, die arabische Qanun, die japanische Shakuhachi – was ist der Grund dafür? Reichen Ihnen nicht die Klangfarben der europäischen Instrumente?

Stahmer: Die Klänge und Spieltechniken der außereuropäischen Instrumente lassen mich tief in die geistige Welt fremder Kulturen eintauchen, auch in das Spirituelle. Sie fordern meine ganze Fantasie und vor allem mein Gehör. Immer wieder habe ich mir Aufnahmen von Meisterinterpreten angehört und mich in ihre Klangwelt versetzt. Dabei entstanden ganz andere Stücke als wenn ich zum Beispiel aus meinen mit dem Klavier gemachten Erfahrungen heraus komponiere.

nmz: Ist das eine Aneignung einer fremden Kultur oder eine Verbeugung vor ihr?

Stahmer: Aneignung hat etwas mit Vereinnahmung zu tun. Ich verabscheue den Kolonialismus und habe meinen Schwarzen Studierenden in Südafrika und den Koreaner*innen, den Chines*innen und all den Nichteuropäer*innen unter meinen Studierenden immer wieder nahegebracht, dass sie ihre eigene Tradition wertschätzen sollten. Unsere westliche Musik ist nicht „besser“ oder „wertvoller“ als was ich bei einer Xhosa-Musikerin im Spiel ihrer Umhrube erlebt habe. Andererseits überschätze ich diese Musik nicht, ich bin kein Romantiker!

nmz: Welche Musiker sollen Ihre Musik spielen? Es gibt vermutlich kaum europäische Musiker, die die Sheng oder die anderen von Ihnen benutzten Instrumente beherrschen.

Stahmer: Das ist eine Kernfrage. Wenn ich mich auf nicht-europäische Instrumente einlasse, brauche ich Musiker, die in der betreffenden Klangwelt aufgewachsen sind. Wir Europäer sind zwar gelehrig genug, und es gibt gute Spieler solcher Instrumente mit europäischen Wurzeln. Und doch: So ganz funktionieren meine Partituren nur, wenn Leute wie Wu Wei oder Gilbert Yammine spielen. Die sind so tief in ihrer Lokaltradition verwurzelt, dass sie auch die Musik eines europäischen Komponisten umsetzen können, der sich auf ihre Wellenlänge begibt.

nmz: Sie bauen musikalische Brücken nach Asien und Afrika, aber auch nach Israel und Polen. Ist diese intensive Suche nach einem Weg zu friedlichem Zusammenleben die Vision einer Weltkultur, die von Vielfalt und gegenseitigem Verstehen bestimmt wird?

Stahmer: Wäre ich ein Landwirt, würde ich sagen, ich betreibe ökologische Landwirtschaft und verzichte auf Glyphosat. Mein Ziel ist eine Musik des Einander-Zuhörens und Aufeinander-Zugehens, sei es innerhalb unserer eigenen Tradition, sei es mit dem Blick nach außen. 

 

 

Print-Rubriken
Unterrubrik