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Musik soll vital, kunstvoll, verständlich sein

Untertitel
Harald Genzmer verstarb am 16. Dezember 2007 in München
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Meine letzte Begegnung mit Harald Genzmer fand im November kurz vor seinem Tod statt: Er legte Wert darauf, mir seine jüngste (und er ahnte wohl, dass es seine letzte sein sollte) Komposition – Variationen für Altflöte solo – persönlich zu übergeben. Bereits bettlägrig, aber in geistiger Frische, erklärte er mir das Werk, und wir besprachen die Uraufführung sowie eine mögliche Veröffentlichung. Nur kurz konnte sich Harald Genzmer noch einmal erholen, er starb am 16. Dezember vergangenen Jahres in seinem Haus in München-Bogenhausen. Anlass zu seiner letzten Komposition ergab sich im Zusammenhang mit der Uraufführung seiner 3. Sonate für Flöte und Klavier im vergangenen Oktober im Münchner Gasteig. Selbstverständlich war der Komponist anwesend – für Harald Genzmer war es bis zuletzt Ehrensache, nach Möglichkeit seinen Aufführungen beizuwohnen. Bei diesem Konzert spielte ich auch „Adieu“ für Altflöte solo von Nikolaus Brass. Tags darauf rief Harald Genzmer an, erkundigte sich eingehend nach der Altquerflöte, die ihn faszinierte, aber ihm bislang noch nicht so vertraut war: nach wenigen Tagen war die neue Komposition fertig.

Dieses Interesse an – zumindest für seine Generation – noch ungewöhnlichen Instrumenten war charakteristisch für Harald Genz­mer. So entstanden auch Kompositionen für Hackbrett, Glasharfe, Heckelfon, Panflöte, Carillon oder in jüngster Zeit für keltische Harfe sowie die frühen Meilensteine elektronischer Musik für den Trautoniumvirtuosen Oskar Sala, den Kommilitonen aus der Berliner Kompositionsklasse von Paul Hindemith, in der Genzmer 1928 bis 1934 studierte. Auch ist kaum eine Besetzung denkbar, die Genzmer nicht reizte, besonders wenn ein Ensemble ihn um eine Komposition bat. So war Genzmer in vieler Hinsicht ein Pionier, wenn auch nie Avantgardist. Suspekt blieb ihm jeder Dogmatismus, der so mancher Musikströmung im 20. Jahrhundert anhaftet. Musik bedeutete für ihn „Dienst am Menschen“, und er präzisierte: „Musik soll vital, kunstvoll und verständlich sein. Als praktikabel möge sie den Interpreten für sich gewinnen, als erfassbar sodann den Hörer.“ Ausgehend von handwerklicher Souveränität lehnte sich Genzmers Stil in der ersten Schaffensphase an seinen Lehrer Paul Hindemith an, und vor allem seine frühen Orchesterwerke erinnern auch an spätromantische Klanggemälde – Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ erwähnte Genzmer immer wieder als Schlüsselerlebnis seiner Jugend. Seit den 50er-Jahren werden neue Einflüsse deutlich: Quartschichtungen der Impressionisten, archaische Quint- und Oktavklänge sowie die Volksmusik verschiedener Länder und Kulturen, die Genzmer in sein Schaffen einbezog und an deren unregelmäßigen tänzerischen Metren er Vergnügen fand. In bisweilen herber kontrapunktischer Verarbeitung entstand daraus Genzmers unverwechselbare Handschrift.

1934 kam Harald Genzmer als Korrepetitor an die Breslauer Oper und wurde bald Studienleiter. Hier war er „Mädchen für alles“ und erwarb das praktische Rüstzeug für den kompositorischen Umgang mit Orchester. Davon zeugen über 70 Orchesterwerke, darunter 5 große Sinfonien, über 30 Instrumentalkonzerte und ein Ballett. Lediglich die Oper sparte Genzmer aus: Dafür sei er nicht geboren und überlasse das berufeneren Kollegen, namentlich Strauss, Orff und aus der „jüngeren“ Generation Henze. Für viele ein Rätsel, hatte er doch dramatisches Gespür und umfassendes Interesse an Theater und Literatur, das er in inspirierenden Gesprächen vermitteln konnte und das sich auch ausdehnte auf Philosophie, bildende Kunst (Genzmer gehörte u.a. zur Ankaufskommission der bayerischen Museen), Physik und Astronomie.

1937 ging Genzmer zurück nach Berlin, da die in Breslau erwartete NSDAP-Mitgliedschaft für ihn nicht in Frage kam. Er unterrichtete an der Volksmusikschule Berlin-Neukölln bis 1942: „Hier hatte ich den ersten wirklichen Kontakt mit musikalischen Laien und habe gelernt, auch für junge Leute zu schreiben, was ich bis heute gerne getan habe. Das Rüstzeug dafür erwirbt man nicht an der Oper, sondern nur durch den Kontakt mit jungen Menschen.“ Ein Großteil seines Schaffens widmete Genzmer Schülern und musikalischen Laien. Musikantisch, lustvoll und einfach zu bewältigen, jedoch nie simpel ist Genzmers Spielmusik. Musizieren in diesem Sinn war für Genzmer seit seiner frühesten Jugend eine Selbstverständlichkeit. Hausmusik gehörte zum Leben der Familie Genzmer. Die Mutter spielte Klavier, der Vater Harmonium. Die beiden Schwestern lernten Block- und Querflöte, er selbst Klavier – vorwiegend von der Mutter. Eine kontinuierliche musikalische Ausbildung für den jungen Harald Genzmer scheiterte allerdings am häufigen Wechsel des Wohnorts. Als Jurist und Germanist (heute noch gültig ist seine Edda-Übersetzung) musste der Vater berufsbedingt mit der Familie von Blumenthal bei Bremen – hier wurde Harald Genzmer 1909 geboren – nach Posen, dann nach Berlin und Rostock umziehen, bis er 1923 eine Jura-Professur in Marburg annahm. Jetzt erst erhielt Harald Genzmer geregelten Klavierunterricht, spielte Orgel in der Kirche und hatte Harmonielehreunterricht beim Marburger Universitätsmusikdirektor Hermann Stephani. Sein Taschengeld verdiente er mit Tanzmusik und investierte es unter anderem in eine Partitur des 3. Streichquartetts von Paul Hindemith, um vorbereitet einer Aufführung durch das Amar-Quartett mit Hindemith an der Bratsche beiwohnen zu können: „Schon nach dem Erklingen der ersten Takte wurde mit bewusst, dass hier etwas ganz Neues geschah. Ich legte die Partitur zur Seite und hörte nur noch fasziniert zu. Damals schon dürfte bei mir der Entschluss gereift sein, mir bei diesem Komponisten eines Tages Rat zu holen.“

1940 bis Kriegsende wirkt Harald Genz­mer als Klarinettist und Pianist bei Lazarett- und Wehrmachtskonzerten mit, unter anderem gemeinsam mit Gustav Scheck, dem Nestor des modernen Flötenspiels in Deutschland, zu dem bereits Anfang der 30er-Jahre eine freundschaftliche Beziehung bestand und aus der eine fruchtbare künstlerische Zusammenarbeit entstand.

Scheck, der Initiator und Gründungsdirektor der Freiburger Musikhochschule, holte Genzmer nach dem Krieg 1946 als Professor für Komposition. 1957 folgte Genzmer dem Ruf an die Münchner Musikhochschule. 1964-74 leitete er zusätzlich die Musikabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und setzte sich hier für eine Verbindung aller Kunstrichtungen ein. Nach seiner Emeritierung 1974 widmete sich Genzmer ausschließlich der Komposition und komplettierte sein Œuvre, das wohl zum umfangreichsten eines Komponisten des 20. Jahrhunderts zählt und nahezu für jedes Instrument und jede Besetzung Repertoirestücke bereithält.

Dieses Œuvre ist fast ausnahmslos bei seinen drei Hauptverlagen Peters, Ries & Erler oder Schott veröffent-licht. Viele Werke entstanden auf Anregung von befreundeten Solisten und Ensembles und so scheinen sich instrumentale Schwerpunkte herauszukristallisieren: Musik für und mit Flöte, Harfe, Klavier, Orgel, Saxophon, Schlagzeug, Vokalmusik … Aber auch für alle anderen – Streich-, Blas- und Zupfinstrumente – hat Genzmer reichlich geschrieben.

Nach dem Tod seiner Frau wollte Genz­mer sich von seinen Aktivitäten zurückziehen, aber bereits wenige Monate später meldete er sich mit dem Entschluss zurück, wieder arbeiten zu wollen. Da war er fast 94 Jahre alt und es entstanden noch zahlreiche Werke – vorwiegend Solos und Duos. „In meinem Alter komponiert man nicht mehr, da greift man auf Altes zurück“ äußerte Genzmer einmal und bezog sich auf seine gesammelte kompositorische Erfahrung, auf die er sich verlassen konnte, die aber nie zur Routine wurde.

Für sein Wirken wurde Harald Genzmer mit höchsten Ehrungen und Auszeichnungen bedacht, die er gerne annahm. Ebenso erfreuten ihn Aufführungen in aller Welt – von Amerika bis Japan – , von denen er im hohen Alter zunehmend Mitteilung erhielt, sowie zahlreiche Einspielungen seiner Werke auf Tonträger. Eine eigene CD-Reihe mit Werken Harald Genzmers gibt THOROFON/ BELLA MUSICA heraus. Rund 15 CDs sind bereits erscheinen, weitere werden folgen. Und als der Landesverband Bayerischer Tonkünstler 1983 die Monografienreihe „Komponisten in Bayern“ startete, war es für den Herausgeber Alexander L. Suder selbstverständlich, den ersten Band Harald Genzmer zu widmen. Zu Genzmers 90. Geburtstag erschien er in zweiter Auflage mit aktualisiertem Werkverzeichnis (Hans Schneider, Tutzing). Der Verband Münchener Tonkünstler ist dankbar und stolz, dass mit Harald Genzmer einer der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit Mitglied und Ehrenmitglied war. Als Harald Genzmer 1957 nach München kam, trat er in unseren Verband ein und hat mit Präsenz, Rat und Unterstützung unsere Aktivitäten über ein halbes Jahrhundert begleitet. Die Aufführungen seiner Werke waren immer ein wesentlicher Bestandteil unserer Konzertreihen und werden es gewiss auch in Zukunft bleiben.

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