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Musiklexikon in der Online-Offensive

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New Grove Dictionary of Music and Musicians, Second Edition
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Das Grove Dictionary of Music and Musicians hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als das Standardlexikon der klassischen Musik etabliert. Standard zu sein bedeutet bei keinem Nachschlagewerk, fehlerfrei zu sein. Als Nicolas Slonimsky (1894–1995), der überragende Lexikograf des Jahrhunderts und später Herausgeber des „Baker’s Dictionary of Music“, 1937 die erste Auflage seiner epochemachenden Musikgeschichte in Tagesereignissen „Music since 1900“ veröffentlichte, listete er im Anhang umfangreiche Korrekturen zu den gängigen Lexika wie Grove und Riemann auf, die falsche Geburts- und Sterbedaten von Musikern des 20. Jahrhunderts enthielten.

Das Grove Dictionary of Music and Musicians hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als das Standardlexikon der klassischen Musik etabliert. Standard zu sein bedeutet bei keinem Nachschlagewerk, fehlerfrei zu sein. Als Nicolas Slonimsky (1894–1995), der überragende Lexikograf des Jahrhunderts und später Herausgeber des „Baker’s Dictionary of Music“, 1937 die erste Auflage seiner epochemachenden Musikgeschichte in Tagesereignissen „Music since 1900“ veröffentlichte, listete er im Anhang umfangreiche Korrekturen zu den gängigen Lexika wie Grove und Riemann auf, die falsche Geburts- und Sterbedaten von Musikern des 20. Jahrhunderts enthielten.Die Anzahl und Prominenz an Fehlerhaftem übte eine erschreckende Wirkung aus, und 1940 erschien die vierte Auflage des Grove, in die Slonimskys Liste zähneknirschend ausnahmslos eingearbeitet wurde. Nun ist die zweite Auflage des zuletzt 1980 erschienen New Grove erhältlich (eigentlich die siebte Auflage des 1878–90 erstveröffentlichten Grove), und sie ist gegenüber dem Vorgänger bedeutend erweitert, schon rein äußerlich von 20 auf 29 Bände (bzw. von 22.500 auf über 29.000 Einträge, davon mehr als 20.000 Biografien) in noblem dunkelblau und unverwüstlicher Bindung, wiegt 68 kg und ist für etwa 9.000 Mark zu haben. Verantwortlicher Herausgeber ist zum zweiten Mal Stanley Sadie (Editor) sowie John Tyrrell (Executive Editor). Das Feld der so genannten Weltmusik nimmt ungefähr doppelt soviel Raum ein als vorher, und Pop- und Rockmusik kommen erstmals ausführlicher zu Wort, wenngleich der speziell daran Interessierte nach wie vor auf Speziallexika angewiesen ist, fehlen doch so bedeutende Musiker wie Peter Hammill, Fred Frith oder Robert Wyatt. Mich wundert, in einem Kontext der anspruchsvollen Musik, das fast völlige Fehlen der „Avantgarde“ im Fadenkreuz von Rock, Jazz, Weltmusik und elektro-akustischem Experiment (Univers Zero, Henry Cow usw.) – hier tut eine umfassende Horizonterweiterung dringend not.

Dass wichtige Namen ausgelassen sind, ist die Schwäche aller Lexika. Ich möchte nur die Komponisten Emil Bohnke, Leroy Robertson und Alistair Hinton als Beispiele nennen. Gravierender ist die Lücke, die sämtliche Standard-Musiklexika einschließlich MGG aufweisen: Was ist eine Cortège? Kommt ja oft genug vor und wird nirgends erklärt! Ein anderes Problem: Auch für akribische Lexikografen gibt es nicht definitiv lösbare Fälle, und so dürfen wir nach der Lektüre des Ida-Haendel-Beitrags getrost trotzdem fragen: Und wann ist sie nun wirklich geboren? Dann gibt es natürlich immer einige schwache Artikel wie hier beispielsweise über Sergiu Celibidache, wo verständnislos Klischees kolportiert werden, über Symphonik im 20. Jahrhundert mit in diesem auf Objektivität Anspruch erhebenden Rahmen unangebracht herabwürdigenden Wertungen und Kenntnislücken, oder über den schwedischen Komponisten Anders Eliasson, wo es um die Aktualität schlecht bestellt ist. Der Fehlerteufel schließlich wütet in allen Redaktionen, und er hat die unermüdlichen Grovianer nicht verschont: Gustav Mahler ist mit einem Mal zwei Monate früher geboren als tatsächlich, und dieser Fehler ist eine echte Novität – eine unerwünschte Nebenwirkung jener Bemühungen, die offiziell so lauten: „Das Redaktionsteam sowie ein weltweites Netz von Musikfachleuten prüften und aktualisierten jeden Eintrag, um die Änderungen der Musikwissenschaft und -forschung auf den aktuellen Stand zu bringen. Ein Großteil der Aufsätze über bedeutende Komponisten wurde völlig neu bearbeitet oder neu verfasst.“ Und dabei passiert’s dann eben. Ganz frei von Animositäten ist man auch nicht, und der unverzichtbare Slonimsky, dem man Entscheidendes verdankt, wird sehr knapp und nicht ohne einen unberechtigten kleinen Seitenhieb abgehandelt, denn seine Enthüllungen haben einst zwar der Wissenschaft geholfen, jedoch dem Image des Hauses Grove geschadet, und alleine schon seine bloße Existenz war eine Provokation für alle ambitionierten Kollegen.

Wer sich nur für den deutschsprachigen Raum interessiert oder des Englischen nicht mächtig ist, ist mit dem MGG besser bedient. Inter-national dürfte der New Grove langfristig die erste Wahl bleiben, zumal er jetzt auch als Online-Lexikon zugänglich ist – ein Pionierprojekt, das im Jahresabonnement satte 600 Mark kostet, wobei bei kurzfristiger Nutzung Ermäßigungen möglich sind (Info-Telefon: +44-207/226 74 50).

Für den, der beruflich oder aus unersättlichem Wissensdrang ständigen Informationsbedarf hat, können sich diese Kosten rechnen, zumal die Online-Redaktion unter Leitung von Laura Macy, die für Verbesserungsvorschläge immer aufgeschlossen ist, vierteljährlich Aktualisierungen vornimmt.

Zudem kann man online die Stichwortsuche selbstverständlich auf den gesamten Text ausdehnen und so jeden Verweis finden, was in einer gedruckten Ausgabe mehrere Zusatzbände erforderlich machen würde. Zu empfehlen wäre, über die Online-Ausgabe auch den Zugriff auf Artikel zu ermöglichen, die nur im „New Grove Dictionary of American Music“ enthalten sind (wie zum Beispiel über den eminenten Violinvirtuosen und Geburtshelfer neuer Musik Tossy Spivakovsky) und nicht im allgemeinen Dictionary. Wer die Bände erwirbt, erhält deswegen noch lange keine Berechtigung zur Online-Nutzung und hat so nicht an der Aktualisierung teil – wäre es nicht denkbar, diese auch in gedruckter Form, etwa als Lose-Blatt-Erweiterung, anzubieten, nach Vorbild des deutschen KdG (Komponisten der Gegenwart) mit entsprechendem Ordner und jeweils neu angepasstem Index?

Das würde sicher nicht zuletzt die Attraktivität der gedruckten Version erhöhen. Und vielleicht dürfen wir dann auch etwas zu dem Stichwort „Cortège“ erfahren.

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