Hauptrubrik
Banner Full-Size

Nachschlag

Untertitel
Duckmäusertums Ende?
Publikationsdatum
Body

Man staunte nicht schlecht. Die vierte Aufführung von Luigi Nonos szenischer Aktion „Al gran sole carico d’amore“ stand an. Wie hierbei immer gab der Dramaturg der Stuttgarter Oper, Klaus Zehelein, eine Dreiviertelstunde vor Beginn eine Werkeinführung oben im Foyer des dritten Rangs (dort, wo man das engagierteste und intelligenteste Publikum vermutet?). Der weitläufige Raum war bis zum Platzen gefüllt. Grob geschätzt drei- oder vierhundert Interessierte drängten sich noch die Treppen hinab. Man erwartete Informationen über Nonos Werk, das noch vor wenigen Jahren als ein ästhetisch verunglücktes Agitprop-Stück verschrien worden war. Zehelein zeigte sich versiert und mutig. Das Stück fordert zur Debatte heraus, sie wurde angenommen. Und trotz manch raunender Zuhörer erwähnte Zehelein, daß der chilenische Ex-Diktator Pinochet (sein Putsch steht unter anderem auch im Hintergrund von „Al gran sole) sich zur Zeit gottlob in britischer Haft befinde.

Die Aufführung lieferte wieder einmal den Beweis, daß Neue Musik, so sie sich radikal den Problemen unserer Gegenwart stellt, längst nicht mehr in Hinterstübchen intellektueller Zirkel verkommen muß. Ihre produktive Provokation wird angenommen. Mehr und mehr empfinden breitere Kreise Langeweile an einer musikalischen Kultur, die nur mehr Entertainment liefert. Viel zu lange schon hat man diesem Trend nachgegeben, Komponisten haben sich zu ihm hin verbogen oder sprangen, die Gunst der Stunde nutzend, auf den Zug auf, weil sie im tieferen Sinn oder für tiefere Sinne nichts zu bieten hatten. Diese Zeit freilich ist längst noch nicht um, und unsere Vergnügungsindustrie produziert mit beängstigender Geschwindigkeit neue Konsumenten der Seichtheit und des Verrats an gesellschaftsästhetischen Auseinandersetzungen. Aber sichtlich wächst das Widerstandspotential. Diese Tendenzen machen Mut und erlauben es, die fast schon verinnerlichte, zum zweiten Wesen gewordene Bittstellerattitüde, wenn es um Sachen zeitgenössischer Musik geht, abzustreifen. Wir kennen die Gesichter, die mit säuerlichen Zügen vor mißgelaunten Kulturverwaltern die Notwendigkeit neuen Schaffens proklamierten in der Hoffnung, ein Krümel des Kuchens abzubekommen; denen beschieden wurde, daß die Menge daran nicht interessiert sei. Und die gebe nun mal in einer Demokratie den Ton an. Und wir kennen auch die Argumentationsnot, in die die Antragssteller gerieten. Sie hatten mit Begriffshülsen wie „Wichtigkeit im Verborgenen“ oder „Schaffen für eine hoffentlich kommende Zukunft“ zu hantieren. Die waren zwar nicht falsch, aber doch recht kraftlos. Im Zuge mit diesen Bemühungen machte man oft, durchaus in guter Absicht, das Falscheste. Man spielte zeitgenössische Musik, aber duckmäuserisch solche, die nicht so sehr weh tut: moderate Moderne. Ein hauptseitig falsch verstandener Postmoderne-Begriff lieferte hierfür das theoretische Rüstzeug. In der Kunst aber bedeuten Kompromisse und Arrangements mit dem scheinbaren Status quo des Bewußtseins nichts anderes als Aufgabe der eigenen Identität. Letztlich wurde durch solche Aufführungen nur das Vorurteil bestätigt, daß das neue Schaffen eben doch nicht mit der großen Klassik mithalten könne. Doch die Empfindlichkeit demgegenüber wächst – nicht nur Stuttgart zeigt das. Wird etwas zur Debatte gestellt, das (wie Nonos „Al gran sole“) in äußerster künstlerischer und menschlicher Konsequenz radikal gedacht und geschaffen wurde, dann steigt die Anteilnahme. Vielleicht sollte man das unseren an der Gegenwart verzagten Kulturmanagern einmal stecken.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!