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Neues Europa

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Aufstand der Saturierten: Von Schiebung war die Rede, und die Verlierer, die sich zuvor selbstsicher als Sieger gewähnt hatten, ergingen sich in wütenden Protesten. Die „Osteuropäer“ hätten sich untereinander abgesprochen, um die „Westeuropäer“ hinauszudrängen. Ein Wiederaufguss der unseligen Debatte vom „neuen“ und „alten“ Europa, die vor Jahren der Irak-Krieger Rumsfeld mit Ranküne, aber guter Beobachtungsgabe angezettelt hatte?

Das Finale des Eurovision Song Contest aus Helsinki hat nun gezeigt: Etwas muss wohl dran sein an diesem Ost-West-Gegensatz. Er hat aber nichts mit Verschwörungsstrategien zu tun, sondern vielmehr mit den unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen, die wiederum Ausdruck eines grundsätzlich anderen Lebensgefühls in den Ländern diesseits und jenseits des früheren Eisernen Vorhangs sind. Insofern war es durchaus aufschlussreich, dieses scheinbar unpolitische Megaereignis aus der Glitzer- und Glamourwelt der Fernsehkultur ein bisschen genauer anzuschauen.

Der „Westen“ wurde vom „Osten“ glatt abserviert, und das zu Recht. Auf den ersten Plätzen lagen Serbien, Ukraine, Russland, die Türkei, Bulgarien und Weißrussland, die Schlussränge garnierten das große Frankreich, das Pop-Empire United Kingdom und die klassische Bardennation Irland. Die deutsche Band dümpelte irgendwo im hinteren Mittelfeld.

Die Wertungen, die per SMS und Telefon abgegeben werden konnten, repräsentieren zweifellos reale Megatrends, auch wenn es in manchen Fällen nach gut organisierter Stimmabgabe aussah. In Ländern mit Migrantenkulturen, starken Minderheiten oder nachbarschaftlichen Bindungen sorgten deren Anhänger oft für entscheidende Stimmenzahlen. Die Skandinavier prämierten sich gegenseitig, in Estland siegten die Russen, Zypern stimmte für Griechenland und in Deutschland holte der türkische Beitrag die meisten Stimmen. Was wieder einmal zeigte, dass der Kampf um die kulturelle Hegemonie von den Minderheiten als Teil des politischen Kampfes verstanden wird.

Was aber ließ die östlichen Beiträge so attraktiv erscheinen? Generell lässt sich sagen: die geradlinige, durch mediale Tricks und Klischees kaum getrübte Vitalität des Vortrags. Das subjektive Engagement, das frische Musizieren siegte über technische Mätzchen und all die verschwiemelten Ideen der PR-Strategen westeuropäischer Finalisten. Das äußerte sich in einer Direktheit des vokalen Ausdrucks, der sich immer wieder mit existenzieller Dringlichkeit Bahn brach, in einem durch vollen Körpereinsatz beglaubigten Rhythmus und in vielfältigen Anleihen bei der regionalen Folklore, verbunden mit durchschlagskräftigen Show-Elementen. Die Russen schickten drei Naugthy Girls in kniefreiem Klosterschülerinnen-Outfit ins Rennen, die mit ihrem spielerischen und zugleich perfekt einstudierten Arrangement den dritten Platz eroberten. Die bulgarische Sängerin brillierte mit aufregender mikrotonaler Melodik und mitreißenden Schlagzeugeinlagen. Die in bizarre Glitzeruniformen gekleidete Truppe aus der Ukraine skandierte zum reduzierten Straight-Rhythmus ihre Nonsense-Verse: „sieben, sieben, einszwei“ und holte damit den zweiten Preis – der schrillste Beitrag des ganzen Wettbewerbs.

Verdiente Siegerinnen wurden die sechs Serbinnen mit „Molitva“, einem Gruppengesang in der Volksmusiktradition, aus dem die Lead-Sängerin Marija Serifovic, ein Anti-Glamour-Typ mit Pilzkopffrisur, mit ausdrucksstarken Melodiebögen herausragte. Starke Emotion, gepaart mit hoher Gesangskultur, vom Schnulzenniveau deutscher Fernseh-abende meilenweit entfernt.
Die Beiträge aus dem Osten demonstrierten den Sieg der Manpower über den Apparat und über Ideologien aller Art. Nach Jahrzehnten der Gängelung zeigen die Künstler von Ungarn bis Armenien, von Litauen bis Moldavien auch eine gesunde Skepsis gegenüber den ungeschriebenen Vorschriften der westlichen Medienkultur – dem Firlefanz von Gender-Moden, kraftlosen Ironien und bunt inszenierten Unverbindlichkeiten.

Beim internationalen Publikum kommt das offensichtlich an. Die leicht tuntige Heiterkeit, mit der die in Pinkfarben gekleideten Franzosen von der Jolie Demoiselle und der Tour Eiffel parlierten, hatte keine Chance gegenüber dem hinterhältigen Witz von Andrej Danilko alias Verka Serduchka aus der Ukraine. Platz 22 (von 24) für Frankreich. Die Schweden ließen einen selbstverliebten Glamourboy sein Ego ausstellen – Platz 18.

Im deutschen Beitrag besang Roger Cicero augenzwinkernd die neue Macht der Frauen und ließ dabei mit seinem Frank-Sinatra-Hütchen die gute alte Bigband-Ära wieder aufleben (warum eigentlich?). Demgegenüber demonstrierte die Truppe aus Georgien Frauenpower real in Gestalt der mitreißenden Sopho, deren „Visionary Dream“ im Hintergrund von vier wilden Säbeltänzern kontrapunktiert wurde. Geschlechterspannung pur – Platz zwölf für Georgien.
Ein frischer Wind weht aus dem Osten. Die mit den Konzernetagen verbandelten Privilegienbesitzer aus den westlichen Metropolen müssen sich warm anziehen. Für diejenigen, die auch von massenwirksamen Genres mehr erwarten als technisch hochgerüsteten Ideologieschrott, bringt er eine Klimaveränderung, die überfällig war.

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