Hauptrubrik
Banner Full-Size

Nicht nur zur Weihnachtszeit...

Untertitel
Christliche Musik aus aller Welt · Von Wieland Ulrichs
Publikationsdatum
Body
Religionsausübung ist nicht jedermanns Sache, doch wenn es auf Weihnachten zugeht, macht sich vom häuslichen Bereich bis zum Konsumtempel wenigstens äußerlich eine Besinnung aufs Christlich-Abendländische bemerkbar. Diese Welle der Pietät möchte ich nutzen, um christliche Musik(en) vorzustellen, von deren Existenz kaum jemand etwas weiß – um dann zum Schluß doch noch etwas richtig Weihnachtliches anzusprechen. Als älteste christliche Nation gelten die Armenier, schließ-lich ist bei ihnen die Arche Noah gelandet, wie es im Buch der Bücher heißt. 1991 nahm der SFB im Haus der Kulturen der Welt ein Konzert auf: „Verschiedene: Kalaschjan – Rural and Urban Traditional Music from Armenia“ (Wergo/SMD SM 1505-2). Dies ist freilich keine rein kirchlich inspirierte Musik, es geht auch um Tanz, Liebe, Ernte und so weiter, doch ein Sologesang preist den Herrn, und ein Osterlied in Kettenform unterhält amüsant. Die Musik ist nicht asiatisch, sondern mit der Laute Ud, Spießgeige Kamancha, Zither Kanon und zwei Oboentypen „mittelmeerarabisch“ geprägt; die Stimmbehandlung erinnert an den Balkan. König Davids Harfe Bereits seit dem vierten Jahrhundert ist das Christentum Staatsreligion der Äthiopier. Ihre religiösen Kontakte reichen bis zu König David, der von Gott selbst die Begena, die legendäre Davidsharfe, bekommen haben soll. Und Menelik I., Sohn von König Salomon und der Königin von Saba, hat diese dann nach Axum gebracht, der damaligen Hauptstadt Äthiopiens. Das zehnsaitige Instrument freilich ist eine Leier, die nur solistisch und nur zu religiösen Zwecken gespielt wird. Als der Teufel sah, wie Gott die Begena schuf, soll er aus Wut eine schlechte Kopie angefertigt haben, die fünfsaitige kleinere Krar, die für weltliche Belange zuständig ist. Beiden Instrumenten ist die nächste CD gewidmet: „Asnakech Worku & Alemu Aga: Ende Jerusalem – Traditional Music from Ethiopia“ (Acoustic Music Records/Rough Trade 319.1098.242). Während Altistin Worku vor allem ausdrucksstarke Liebeslieder singt, trägt Kollege Aga nicht zuletzt die Schöpfungsgeschichte auf Amharisch vor. Trotz einer gewissen Monotonie strahlen beide Interpreten große Faszination aus. Weithin übersehen wird, daß es auch im Vorderen Orient christliche Kirchen gibt, die ihre Liturgien und Musiken besitzen. Ein Großteil davon läßt sich zurückführen auf das Patriarchat von Antiochia, und die Unterschiede haben nicht zuletzt ihren Ursprung in der Frage der Dreifaltigkeit und anderer Exogese. Aus zwei Chören der syrisch-orthodoxen (jakobitischen) Kirche Antiochias wurden für eine CD elf Sänger/innen zusammengestellt: „Église syriaque orthodoxe d’Antioche: Chants liturgiques du Carême et du Vendredi Saint“ (Inédit/PMS W 260072). Die Ursprünge dieser Gesänge liegen im vierten Jahrhundert, und das Heft erläutert auf Französisch und Englisch knapp, aber prägnant den Hintergrund. Die Frage, ob Frauen in der Kirche singen dürfen, ist offenbar kein Thema, und noch etwas ist einmalig: die Sprache. Man singt nämlich Syrisch, eine Spätform des Aramäischen, zu dem auch das Jüdisch-Palästinensische zählt – die Sprache Jesu, die heute noch in manchen Dörfern gesprochen wird, muttersprachliches Halleluja quasi. Die 15 einstimmigen Gesänge, hier einmal zur Fastenzeit und zum Karfreitag, erklingen in acht Modi, die den Kirchentonarten nur bedingt ähneln. Wechselgesänge prägen den Verlauf der kargen, urtümlichen und nicht immer völlig gelungenen Darbietung mit dem Glaubensbekenntnis und einem demutvollen Sopran-solo-Gebet als Höhepunkten. Christliche Araber Leichter verdaulich ist die CD eines Trios mit Gesang, Synthesizern, Sample-Technik und elektrischen Gitarren: „Vox – X Chants from the Christian Arab Tradition“ (Erdenklang/inak 71002). Die Produktion lebt von der begeisternden Stimme der Libanesin Fadia EI-Hage, und die elektrische Begleitung hält sich meist dezent im Hintergrund. Die zehn Melodien mit griechischen und arabischen Texten tragen zwar modernes Copyright, berufen sich aber auf alte maronitische und andere Quellen. Die Mischung zwischen arabischem und etwa byzantinischem Gesang, auch mit Intervallschichtungen, dürfte für Einsteiger gut zugänglich sein und trägt die Handschrift des Soundbastlers Vladimir Ivanoff. Der ist nämlich ein gebürtiger Bulgare. Während sich in anderen Teilen des afrikanischen Kontinents diverse Völkerschaften blutig bekriegen, gibt es aus Südafrika definitiv christlich-pazifistische Töne zu hören. Ein zehnköpfiger Männerchor, der Nelson Mandela zur Nobelpreis-Verleihung nach Oslo begleitete, mischt Wechselgesang, skandierte Texte oder Syllabismen und Barbershop-Singing mit trickreichen Rhythmen: „Ladysmith Black Mambazo: Thuthukani ngoxolo“ (Koch International 33202-2). „Let’s Develop in Peace“ lautet der Titel auf Englisch, und im Begleittext steht „Love will enable us to meet the Lord.“ Diese „neuafrikanische“ Musikform, möglicherweise auf choralsingende Missionare zurückzuführen, scheint sich steigender Beliebtheit zu erfreuen – Zimbabwes singende Antwort etwa nennt sich „Black Umfolosi“. Vielleicht stimmt ja die Theorie der musikalischen Beeinflussung durch Missionare. Im Osten der indonesischen Insel Flores – der blumige portugiesische Name stammt aus dem 16. Jahrhundert – gibt es mehrstimmige Tanz- und Arbeitslieder, die klare Dreiklänge aufweisen. Kein Wunder: 85 Prozent der Flores-Insulaner sind römisch-katholisch, während etwa der gleiche Anteil aller Indonesier Moslems sind. Auf der CD „Vocal and Instrumental Music from East and Central Flores“ (Smithsonian Folkways/Koch Int. SF 40424), Nr. 8 in der beachtlichen Reihe „Music of Indonesia“ finden sich allerhand dieser Chorbeispiele, wenn auch nicht mit explizit christlichem Inhalt. Das soll nun folgen. Die östliche Hälfte Neuguineas bildet den zum Commonwealth gehörenden Staat Papua-Neuguinea, die westliche übergaben die Niederländer erst 1969 an Indonesien, wo sie die Provinz Irian Jaya bildet. In einer großen Bucht liegt die kleine Biak-Insel (früher Schouten) mit christlicher Bevölkerung. Hier gibt es Kirchenchöre, die von Einheimischen im strengen Satz geschriebene mehrstimmige Hymnen singen, an Skiffle erinnernde Tanzmusik mit christlichen Themen und Doppeldominanten – alles reichlich bizarr. Selbst traditionelle „Wor“-Gesänge zu Perkussion und Tänze vermitteln christliche Inhalte. Für ein Hör-Quiz ist „Music of Biak, Irian Jaya“ (Smithsonian Folkways/Koch Int. SF 40426, Music of Indonesia Vol. 10) zweifellos der Härtetest. Wertvolles Brauchtum Zu den Gesellschaftsinseln im „Territoire d’outre-mer“ Französisch-Polynesien gehört eine 550 Kilometer vom Verwaltungssitz Tahiti entfernte Insel mit drei Dörfern, die einem erstaunlichen Chor den Namen gab: „Rurutu Choir: Polynesian Odyssey“ (Shanachie/Koch Int. 64065). Die Maoris wurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts von englischen Missionaren christianisiert, die großen Wert auf den Erhalt des alten Brauchtums legten. Dieser Chor nun singt quasi „neue Volkskunst“, die wieder an die Chöre aus Afrikas Süden erinnert und sich nicht zuletzt mit dem Messias befaßt. Sprech- und Wechselgesänge über dissonanten Klangschichtungen ergeben ein eindrucksvolles, unterschiedlich organisiertes Chaos ... Der 29. September ist der Tag des heiligen Michael. In San Miguel Tzinacapan (= Fledermausquelle) im Norden der mexikanischen Provinz Puebla wird das Michaelsfest mehrere Tage gefeiert, wobei verschiedene Truppen unterschiedliche Tanz- und Kampfspiele ritueller Art aufführen, was man sich als eine Mischung aus indianischer Dramaturgie, spanischer Fiesta und Morris Dance vorstellen muß: „Mexique: Fêtes de San Miguel Tzinacapan“ (Ocora/inak C 560099). Die Musik an sich ist eher spärlich: Rohrflöte, Glöckchen und Perkussion, auch mal Geige und Gitarre, untermalen die Aktionen, die man wohl eher filmen müßte – leider bietet das Heft nur ein Foto. Da gibt es etwa den Santiago mit seiner Gruppe, der sich weigert, den Pilatos (von Pontius P.) sein Pferd zu überlassen und lieber die Pilatos erschlagen will, was vom Rhythmus aufeinanderschlagender Holzschwerter unterstrichen wird... Die 75 Minuten wurden vor Ort live aufgenommen, da hört man dann auch mal Passanten reden, Tänzer stampfen und so weiter. Wer genüßliche Musik erwartet, ist hier wohl eher schlecht beraten, aber rhythmisch gibt es beispielsweise viel zu entdecken. Knapp die Hälfte seines Programms bestreitet der gemischte Chor eines pädagogischen Instituts mit geistlichen Gesängen, diesmal aus der Ukraine: „Kalena: Voix ukrainiennes“ (PlayaSound/PMS PS 65145). Dabei geht es auch um Weihnachten, von der ukrainisch-orthodoxen Kirche am 7. Januar gefeiert, und die teilweise bombastisch-pathetische Orchesterbegleitung der Volkslieder kann nicht verschleiern, daß es sich um einen hochgradig konzertanten Chor handelt, der auch in kleineren Besetzungen wunderbar singt – und im übrigen mit dem Kosaken-Klischee nichts gemein hat. Bulgariens zweitgrößte Stadt Plovdiv hieß in der Antike Philippopolis. Von dort kommt ein 13köpfiger Männerchor orthodoxer Geistlicher, deren Programm sich zumindest teilweise an der Gottesdienst-Liturgie orientiert. Ob der Chor heute noch existiert, ist unklar, hat sich doch die bulgarisch-orthodoxe Kirche vor kurzem aus vermutlich politischen Gründen gespalten. In jedem Fall ist die CD „Kammerchor Philippopolis“ (JMP 300 5009, Junior, Sendlinger Str. 24, 80331 München) ein gregorianisch-byzantinischer Genuß ersten Ranges. Das ausgesprochen dynamische und keinesfalls eintönige Programm beginnt mit dem „Vaterunser“ und endet mit einem Segensgebet und Glockenklängen. Aus Katalonien kennt man vor allem politische Sänger (Raimón, Lluis Llach, Xavier Ribalta et cetera), die während des Franquismo im Exil lebten – der Gebrauch der Muttersprache stand unter Strafe. Weniger bekannt ist die jahrhundertealte katalanische Chortradition, in der ein Chor steht, der neben einer Volkslied-Kantate und weiteren Volksliedern auch sechs bezaubernde und witzige Weihnachtslieder singt: „Orfeó Català: Chansons traditionelles de Catalogne“ (harmonia mundi/Helikon HMI 1907006). Die vom Beginn des Jahrhunderts stammenden Sätze leben von einem weitgehend eigenständigen, gemäßigt modernen Charakter ohne allzu viele Romantizismen. Den Schluß bildet das „Lied der Vögel“, mit welchem der Exil-Katalane Pablo Casals immer seine Konzerte beendete. Das Notenmaterial dieser interessanten Lieder dürfte leider nur schwer zu besorgen sein. Folklore und Tradition Das ist bei einem Teil der heute letzten CD mit einem kompletten Weihnachtsprogramm anders. Das Volk mit einem Volkslied pro Kopf, welches sich mit der „Singenden Revolution“ friedlich aus der Sowjetunion löste, sind die Esten. Sängerfeste und Chorwettbewerbe haben bei ihnen seit Beginn der ersten Republik große Tradition, kein Wunder also, daß es viele estnische Komponisten auch der jüngeren Generation gibt. Zu ihnen gehört ein 1960 Geborener, der sich in seinem umfangreichen Schaffen auch mit Weihnachten auseinandergesetzt hat: „Academic Male Choir of Tallinn Technical University u.a.: Urmas Sisask-Jõuluoratoorium & Jõulumissa“ (Antes BM-CD 31.9061). Das 37-Minuten-Weihnachtsoratorium mit Sopran- und Tenorsolisten, Orgel, Trompete, Klavier/Cembalo, Oboe, Blockflöten, Cello, Baß und sparsamer Perkussion bringt Alleluia, Gloria und Benedictus in lateinischer Sprache und strahlt Freude aus. Stilistisch handelt es sich um ein Mittelding zwischen finnischer Folklore und russischer Chortradition. Dazu gibt es Noten (Bella Musica, Rheinstr. 26, 77815 Bühl) – Kantoreien, die etwa Distler oder Honegger aufführen, werden erfrischt sein. Die Weihnachtsmesse mit 27 Minuten ist etwas kleiner besetzt, liturgisch angelegt und genauso freudevoll. Direkt witzig ist ein bekanntes Zitat: „O du fröhliche“.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!