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Platz drei in der Hitliste der Aktivitäten

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Singen im Kindergarten: Ergebnisse und Rückschlüsse einer Umfrage
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Seit geraumer Zeit nimmt in der Musikszene die Diskussion um den Stellenwert des aktiven Musizierens von Kindern und Jugendlichen einen breiten Raum ein. Beklagt wird in der Regel ein Mangel, den meist die gesamte Gesellschaft oder zumindest „die anderen“ zu verantworten haben. Die einen bangen um den Nachwuchs an Konzertbesuchern, die anderen um zukünftige Chorsänger und nicht zuletzt die Hochschulen malen ein Szenario der Übernahme ihrer Häuser durch Studenten aus anderen Ländern an die Wand. Neben diesen nicht ganz zweckfreien und selbstlosen Warnrufen hört man allerdings auch diejenigen, die vor allem um die persönlichkeitsbildende Wirkung von Musik wissen und deren Verlust für jedes Kind als Person fürchten. Der Fokus der Klage richtet sich dabei verstärkt auf die allgemein bildenden Institutionen, auf Schule und Kindergarten. Und nimmt man nun letzteren und dazu das musikpädagogische Teilthema „Singen“ heraus, so fallen die Beurteilungen meist schlecht bis katastrophal aus.

Pauschalurteile sind selten richtig und sie sind ob der daraus zwangsläufig folgenden Polarisierung wohl nie dazu angetan, positive Entwicklungen in Gang zu setzen. Gerade in der Diskussion um das Singen im Kindergarten sind sich die Fachleute aber oft allzu schnell einig: „In unseren Kindergärten wird zu wenig gesungen. Es wird meist falsch – sprich zu tief – gesungen. Die Qualität der Lieder ist in der Breite mangelhaft.“ Sicher sind diese Aussagen leider häufiger richtig als falsch, aber man hört aus solchen gerade in Musikerkreisen nicht seltenen Verdammungen im Unterton heraus: „die“ können’s nicht und oft wollen sie auch nicht! Ob das die angesprochenen „die“, also das pädagogische Personal der Kindergärten, zu einer Reflexion der Situation und zum Aufbruch zu neuen Ufern motiviert?

Eher hilfreich ist sicher der Ansatz, vor der Wertung erst einmal gezielt nachzufragen. Und genau dies hat Peter Brünger, Professor für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt, mit seinem Buch „Singen im Kindergarten“ getan, indem er je zwei Exemplare eines ausführlichen Fragebogens an je 600 Kindertagesstätten in Bayern und in Niedersachsen verschickt hat. Insgesamt also 2.400 Bögen, von denen immerhin 936 zurückgeschickt wurden. So darf die Studie zum einen durchaus als repräsentativ angesehen werden und zum anderen zeigt die Einbeziehung zweier Bundesländer einen ihrer interessantesten Aspekte auf: die Fragestellung, ob im Vergleich der Regionen ein Süd-Nord-Gefälle besteht.

Der Autor versucht im ersten Teil zunächst eine Bestandsaufnahme, wie es um das Singen in der Familie, im Kindergarten und in der Ausbildung des pädagogischen Kindergartenpersonals bestellt ist. Die hier getroffenen Feststellungen sind wohl ebenso richtig wie bereits allgemein bekannt und diskutiert. Es folgt ein Kapitel, das die frühkindliche und vorschulische Entwicklung der Kinderstimme in ihrer Idealform skizziert, um für die weiteren Überlegungen einen Vergleichsmaßstab anzulegen. Freilich sind in diesem Bereich „Standards“ nur mit großen Einschränkungen festzulegen und jeder, der mit Kindern singt, weiß zu jedem Punkt Gegenbeispiele zu nennen. Dennoch sind die Entwicklungsschritte unzweifelhaft richtig und besonders die Schlussfolgerung, dass dem Kindergartenalter eine entscheidende Bedeutung in der Entfaltung der stimmlichen Ausdrucksfähigkeit zukommt, überzeugt gerade im Bezug auf die Notwendigkeit einer Bezugsperson. Erst dann folgt aber mit dem gut gegliederten und griffig aufbereiteten empirischen Teil der Kern dieses Buches und für den Leser das „eigentlich Neue“.

Die detaillierte Auswertung der Umfrage kann hier in ihren Ergebnissen nicht annähernd wiedergegeben werden. Sie sollte aber zur Pflichtlektüre für alle erhoben werden, die mit Kindern singen und noch mehr für diejenigen, die hierfür übergeordnete Verantwortung tragen. Es gibt da überraschende Ergebnisse zu entdecken wie etwa die Tatsache, dass das Singen in der Rangfolge der Aktivitäten im Kindergarten wider Erwarten auf Rang drei und damit sehr weit oben rangiert – womit Vorurteil eins (siehe oben) sich als solches entlarvt. Es gibt konkrete Materialien wie eine Hitliste der Lieder, die von den Fachkräften im Kindergarten gesungen werden – allein diese böte Stoff für eine tiefgehende und fruchtbringende Diskussion, für die der Autor mit der Frage „Woher bezieht das pädagogische Personal diese Lieder?“ eine Kernfrage anspricht. Und die vielfältigen Differenzierungen im Hinblick auf das Lebensalter und den persönlichen Hintergrund der Befragten sind dazu angetan, die Überlegungen bezüglich Aus- und Fortbildung gründlich zu überdenken.

Die Schlussfolgerungen des Autors beziehen sich zentral auf die Reform der Ausbildung des pädagogischen Personals. Diese Ausbildung kommt zwar in Bayern in der Bewertung der Befragten „mit einem blauen Auge“ davon, aber gerade bezüglich der Praxisrelevanz ist das Urteil im Grunde genommen länderübergreifend vernichtend – Jubel oder Überheblichkeit sind also im praktischen Ergebnis weder in München noch in Hannover angebracht.

ewusstseinsbildung für die Bedeutung des Singens, Kenntnisse über die Kinderstimme, ein Repertoire an Kinderliedern, Methoden der Liedvermittlung und Instrumentalspiel zählen zum Forderungskatalog, der sich aus der Befragung ableitet.

Solche Veränderungen sind freilich nur auf bildungspolitischer Ebene zu erreichen, wozu Brünger im „Post-Pisa-Aktionismus“ durchaus eine Chance sieht. Mit dieser Studie und deren höchst lesenswerter Zusammenfassung hat der Autor seinen Teil beigetragen. Nun bleiben aber die zentralen Fragen: Werden diejenigen das Buch lesen, die tatsächlich etwas bewegen können? Werden die Lobbyisten der Verbände es nach der Lektüre nur als Nahrung für weitere Klagen, weiteres Jammern benutzen oder leben sie konsequent vor, was sie von anderen fordern? Und: Schaffen wir es gemeinsam, den Hauptverantwortlichen – den Eltern! – unser Anliegen positiv oder weiterhin nur mit erhobenem Zeigefinger nahe zu bringen?

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