Hauptbild
„exit to enter“ von Michael Beil. Foto: Rolf Schoellkopf
„exit to enter“ von Michael Beil. Foto: Rolf Schoellkopf
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Produzieren als Erfahrung

Untertitel
Zum 18. Festival der projektgruppe neue musik bremen
Publikationsdatum
Body

Wer glaubt, dass die Neue Musik am Ende ihrer klanglichen Forschungen angekommen ist, wie seit einiger Zeit vielfach zu hören war, wurde am dritten November-Wochenende in Bremen eines Besseren belehrt. Bereits zum 18. Mal hatte die projektgruppe neue musik bremen ein Festivalprogramm organisiert, wie man es sich spannender kaum wünschen kann: Internationale Musik auf der Höhe der Zeit, reich an musikalischen Erlebnissen, mit Überraschungen (etwa Steven Kazuo Takasugis aberwitzige Klavierübung für Solopiano und Elektronik oder Electronic Playback), dazu auch mit mannigfachen gedanklichen Anregungen.

Für den theoretischen Part mit Impulsreferaten waren die Musikwissenschaftler Carolin Naujocks und Björn Gottstein sowie der Philosoph Harry Lehmann eingeladen worden. Aus den zur Auswahl vorgegebenen Stichworten hatten sie sich für ihre Referate „Produktion – Reproduktion“ (Naujocks) „Originalität“ (Lehmann) und „Virtuosität“ (Gottstein) ausgesucht, die auch die Basis für die drei kompetent geleiteten Gesprächsrunden mit den Komponisten bildeten. Das war so anregend, dass selbst noch bei der dritten Gesprächsrunde am Sonntagnachmittag der kleine Saal der Villa Ichon am Goetheplatz überfüllt war. Das „Re“ ist genauso wichtig geworden wie das „Pro“ beziehungsweise hat es ersetzt, möglich geworden durch handliche Elektronik und die Verfügbarkeit von Klang- und Bildmaterialien durch die neuen Medien.

Diese Entwicklung repräsentierten in fünf Konzerten in einem breiten stilistischen Spektrum Kompositionen von Michael Beil, Alexander Schubert, Vinicius Giusti, Peter Ablinger, Thomas Hummel, Vladimir Gorlinsky, Giorgio Netti und anderen. Hummel etwa ist das erste e-player-Orchester zu verdanken, das nur aus Samples besteht. Wie originell und klanglich doch vertraut dieses eingesetzt werden kann, zeigte seine Komposition „Sinaida Kowalenko“ für sechs Instrumente und eben e-player-Orchester, eine Uraufführung. Ganz anders dagegen Johannes Kreidlers Musik im selben Konzert am Samstagabend im (geretteten) Sendesaal Bremen. In seinem Stück „Der Weg der Verzweiflung (Hegel) ist der chromatische“ für neun Instrumente, Audio- und Videozuspiel wird durch die Möglichkeiten von Computer-Schnitttechnik das teils komponierte, teils gefundene Ausgangsmaterial zu einem irrwitzigen und originellen Clash von Neuer Musik, Mediengeräuschen, Sprache und Pop collagiert.

Ganz wichtig für das das gute Gelingen dieses Festivals waren die durchweg ausgezeichneten Interpreten. Ensembles wie Nadar aus Belgien oder die Manufaktur für aktuelle Musik beherrschen neben ihrem musikalischen Handwerk längst auch das von professionellen Performern. Solisten wie der englische Pianist Mark Knoop wiederum begeisterten (etwa bei Takasugi) durch eine besondere Virtuosität, ebenso die schweizer Bratschistin Anna Spina bei der Uraufführung der vollständigen Fassung des „ciclo del ritorno“ für präparierte und verstärk-te Viola von Giorgio Netti. 

Bestandteil dieses neuen, reproduktiven Komponierens ist die Erweiterung des Klanglichen durch visuelle Reproduzierbarkeit, ob durch Live-Video, Zuspiel oder auch Live-Performance. Exemplarisch dafür war „Faust or the Decline of Western Music“ des Norwegers Trond Reinholdtsen für Solo-Pianisten, Videoeinblendungen und diverse Materialien, ein Kabinettstück par excellence. Die Endlosigkeit der eingeblendeten Schlagworte und Notengrafiken – Kommentare zur Musik des Abendlandes – ebenso aus dem Flügel rhythmisch aufsteigende, winzige Luftballons, ein Karl-Marx-Porträt oder der Bratvorgang eines Fischgerichts lieferten zum Genrezitat, nämlich hochkomplexe Klaviermusik, gleichsam faustische Kommentare mit doppeltem Boden. Ganz anders bei Michael Beils „exit to enter“ für das Nadar-Ensemble mit Live-Audio und Live-Video. Aus der kompositorischen Trennung von Bild und Ton entwickelte er ein amüsantes Vexierspiel aus real erzeugten und live projizierten Spielaktionen.

Das Bremer Festival war aber auch dadurch so interessant, weil Arbeiten von Varèse („poème electronique“), Nono („Omaggio a Vedova“) und Xenakis („Concret PH“) einen Bogen zu den historischen Anfängen eines solchen kompositorischen Ausbrechens spannten. Dazu gehörte auch Gerard Griseys großartige Kammermusik „Vortex Temporum“, faszinierend gespielt von Musikern der Manufaktur. Zu dieser Spektralmusik passte dann als nichtmediale Weiterentwicklung reproduzierender Verfahren Mark Andres einfach stupende Musik für zwei Klaviere „S1“ – S wie Schwelle. Komponiert war hier die Erforschung des Widerhalls im Inneren der Flügel, ausgelöst durch entsprechende Spielaktionen und Pedalisierung.

Fazit dieser Bremer Konzerttagung: Die Neue Musik ist durch Verfahren der Reproduktion reicher denn je. Das in allen Veranstaltungen sehr zahlreiche Publikum jedenfalls war begeistert.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!