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Quintessentieller Flötist

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Zum Tod von Jeremy Steig
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Als Jeremy Steig am 13. April 2016 in Yokohama für immer seine Flöten aus der Hand legte, hatten ihn die Jazzfreunde so sehr aus den Augen verloren, dass die Nachricht sich erst nach Wochen verbreitete.

Mit seiner Frau Asako hatte er in den letzten Jahren digitale Bilderbücher gestaltet, womit er eine Familientradition fortführte, war doch sein Vater William Steig Cartoonist und Schöpfer des grünen Monsters Shrek gewesen. In den 60er- und 70er-Jahren war er als einer der technisch versiertesten, vielseitigsten und am intensivsten musizierenden Flötisten des Jazz eine unüberhörbare Größe, auch wenn in den Meinungsumfragen meist die üblichen Verdächtigen (Herbie Mann, James Moody, Hubert Laws) führten, die er an experimentellem Wagemut übertraf. Mit einer soliden klassischen Ausbildung, doch auf den Spuren Roland Kirks den Flötenton um Luft- und Klappengeräusche ergänzend, schließlich durch die Zuhilfenahme elektrischer und elektronischer Mittel die Möglichkeiten seiner diversen Flöten von Bassflöte bis Piccolo erweiternd, war er gleichermaßen im Mainstream wie im Jazzrock zu Hause, zu dessen Pionieren er zählte.

Steig wurde am 23. September 1942 im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village in eine Familie voller Künstler und Gelehrten hineingeboren. Mutter Liza Steig war die Leiterin der Kunstabteilung am Lesley College; ihre Schwester war Margaret Mead,  eine einflussreiche Anthropologin. Mit sechs improvisierte Steig schon auf der Blockflöte. Mit elf Jahren wurde Paige Brook von den New Yorker Philharmonikern sein Querflötenlehrer, den er als seinen Haupteinfluss betrachtete. Als weitere Einflüsse nannte Steig neben Bill Evans, Thelonious Monk, John Coltrane und Sonny Rollins, doch keine Jazzflötisten. Mit 15 Jahren erkannte er an einer Platte von Clifford Brown, dass er seine ganze Jugend hindurch Jazz gespielt hatte, ohne das Wort zu kennen.

Mit dem Bassisten Eddie Gomez besuchte er die High School und schon in diesen frühen Jahren spielten sie dort miteinander im Duo. Wenn die Lehrer sie dabei erwischten, wurden sie getadelt, Jazz zu spielen und bekamen ein „N“ für Unbefriedigend ins Zeugnis eingetragen. Heute habe diese Schule ein Jazzprogramm, meinte Steig 2000, doch „Jazz education“ sei der Todesstoß der Musik. Im Duo mit Gomez Steig entstanden einige seiner besten Alben, darunter „Outlaws“ (Enja, 1976) und „Music For Flute And Double Bass“ (CMP, 1978). Als Gomez Mitglied des Bill Evans Trios war, spielte Steig mit diesem 1969 das Album „What’s New“ ein, Dokument einer tiefen Beziehung zum Poeten des Jazzpianos. 10 Jahre lang stieg Steig immer, wenn Bill Evans in New York konzertierte, im letzten Set ein.

Im Alter von 19 hatte Steig einen Motorradunfall, von dem er eine einseitige Lähmung davontrug. Für einige Jahre konnte er daher nur mit einem speziellen Mundstück blasen. 1963 spielte er sein fulminantes Debüt-Album „Flute Fever“ mit dem Trio des Pianisten Denny Zeitlin ein. „Jeremy and the Satyrs“, eine Band, die Steig 1962 gegründet hatte, aber erst 1967 eine Platte machte, gilt als wichtiger Wegbereiter der Jazz-Rock-Fusion. Steig selbst sah sie als „Blues-Jazz-Band“. 1970 verwirklichte er mit dem Album „Energy“ mit Jan Hammer, Gene Perla und Don Alias seine Idealvorstellung von Fusion. „Da haben wir tatsächlich alles improvisiert, es gab nichts Komponiertes. Wir gingen einfach aufeinander ein. Heute ist alles arrangiert, da hat jeder Angst, einen Fehler zu machen, so dass alles aufgeschrieben wird bis zu einem Punkt, wo alles viel mehr Rock als Jazz ist“, meinte er 1979, den Niedergang des Jazzrock durch Kommerzialisierung beklagend, die auch vor eigenen Platten nicht Halt machte. Auf „Legwork“ von 1969 spielte Steig in „Howling For Judy“ schon verschiedene Flöten im Playbackverfahren, eine typische Facette seines Schaffens. Als 1994 einige gesampelte Takte daraus Grundlage der Hiphop-Single „Sure Shot“ der Beastie Boys wurde, kam das einem Lotteriegewinn gleich. Für den kleinen Ausschnitt habe er mehr Geld bekommen als für seine 20 Alben. „Das Musikgeschäft ist komisch“, sinnierte Steig. „Sie sagen dir, mach’ eine Platte, das zahlt sich bei den Gigs aus. Und dann sagen sie, tritt auf, das wird dir helfen, die Platte zu verkaufen. Doch Geld verdienen die Musiker weder beim Gig noch durch Platten. Daher werden sie alle Collegeprofessoren und unterrichten doofe reiche Kids, wie man schlechten Jazz spielt.“

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