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„Richtig“ und „falsch“ gibt es nicht

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Münchener Musikpädagog*innen arbeiten an einer inklusiven Gestaltung des Musikunterrichts
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Was derzeit am Institut für Musikpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München erarbeitet wird, könnte ein wichtiger Schritt in Sachen Inklusion sein: Niemand, so das große Ziel, soll im Musikunterricht beschämt oder verängstigt werden. Der Unterricht wird so gestaltet, dass er von allen Kindern als positiv erlebt wird. Unabhängig vom individuellen Förderbedarf, vom kulturellen oder sozialen Hintergrund.

Der Gedanke, dass alle Kinder einer Klasse am Ende des Schuljahres das gleiche Ziel erreichen müssen, zeugt im Grunde von rührender Ahnungslosigkeit: Homogene Klassen gibt es so gut wie nicht. „In den Klassen, mit denen wir kooperieren, liegt der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund oft bei um die 40 Prozent“, berichtet Beatrice McNamara vom 2019 gestarteten Projekt „Unterricht inklusiv gestalten mit Musik“. Hinzu kommen in jeder Klasse Jungen und Mädchen, die einen Förderbedarf haben. Etwa, weil sie ADHS oder Autismus haben. Auch Kinder mit einer Lernbehinderung werden im Projekt mitgedacht.

Ein Kind, dessen Eltern von Sozial­hilfe leben und das keine Chance hatte, ein Instrument zu lernen, soll im Musikunterricht genauso mitkommen wie ein Kind, das früh Gitarren­unterricht erhielt. Um zu demonstrieren, dass dies ohne großen Aufwand gelingen kann, entwickeln Studierende Unterrichtsmaterialien, die in den kooperierenden Schulen ausprobiert werden. In einem Fall geht es um das zuvor einstudierte Lied „Drunken Sailor“ in der sechsten Klasse einer Mittelschule. Die Schüler*innen lernen eigenständig zu dritt oder viert über Lehrvideos, die von den Studierenden erstellt wurden, das Lied mit schwereren und leichteren Begleitpattern mittels Djembe, Xylophon und E-Bass zu begleiten.

Flexibler Unterricht

Eine Lehrerin, die sich nicht nur als Wissensvermittlerin, sondern als Partnerin gerade für schwächere Schüler*innen versteht, bezieht jedes einzelne Kind so ein, wie es dessen Talenten entspricht. Beatrice McNamara schildert dies am fiktiven Schüler Ansgar. Der Junge ist verhaltensauffällig und kann keine Noten lesen: „Ein Instrument hatte er noch nie in der Hand.“ Trotz seiner Beeinträchtigung soll es ihm möglich werden, den „Drunken Sailor“ auf dem Xylophon zu begleiten. Dabei genügt es, wenn Ansgar imstande ist, zwei der Holzstäbe zu dem Lied zu schlagen. Fällt es ihm schwer, die beiden Stäbe zu treffen, können alle anderen Stäbe entfernt werden. Die Art und Weise, wie vor 40 Jahren Musikunterricht stattfand, würde heute als untragbar angesehen: Kinder, die von sich überzeugt waren, dass sie nicht singen können, wurden gezwungen, vor der Klasse ein Lied zu trällern. Adipöse Kinder mussten tanzen. Bei Beatrice McNamara lernen um die 17 Studierende pro Semes­ter, so flexibel zu unterrichten, dass jedes Kind mit seinen individuellen Fähigkeiten diskriminierungsfrei einbezogen wird. An den Seminaren nehmen Studentinnen und Studenten des Didaktik-Fachs Musik teil, außerdem angehende Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagog*innen sowie Studierende von Deutsch als Zweitsprache.

Der UN-Behindertenrechtskonvention zufolge sollen alle Lebensbereiche, angefangen vom Bildungssystem über das Vereinswesen bis hin zur Arbeitswelt, inklusiv gestaltet werden. „Wir vermitteln den Studierenden diese gesamtgesellschaftliche Perspektive“, so Beatrice McNamara. Vor allem aber sollen sie verstehen, worauf Inklusion basiert: „Nämlich, dass es kein ‚richtig‘ und ‚falsch‘ gibt.“ In einer Grundschule wurde dies bei der Verklanglichung des Gedichts „Gewitter“ von Erwin Moser ausprobiert. Dabei sind die Schüler frei, Wettergeräusche mit dem Körper darzustellen. Je nach ihren kreativen Fähigkeiten erhalten sie dabei Gestaltungsideen von der Lehrerin.

Auf schwächere Schüler*innen Rücksicht zu nehmen, bedeutet nicht, leistungsstärkere zu vernachlässigen. Hier setzt die Idee „Peer Teaching“ an: „Dabei geben Schüler, die etwas weiter sind, anderen Schülern Hilfestellung“, erläutert Beatrice McNamara – etwa sprachlich oder auch in puncto Kreativität. So werden die Grundschüler bei der musikalischen Umsetzung des Gedichts „Gewitter“ durch Bodypercussion animiert, sich gegenseitig zu unterstützen. Später wird das Gedicht mit Instrumenten verklanglicht: „Dabei erlernen die Schüler auch soziale Kompetenzen, denn sie müssen sich auf eine Komposition einigen.“

Niemand wird abgehängt

Menschen, die ständig nur Misserfolge erleben, die sich herabgesetzt oder bloßgestellt fühlen, können verstummen, zynisch oder psychisch krank werden. „Bei uns hingegen werden ausschließlich positive Impulse gesetzt, und dies überträgt sich auf die Atmosphäre in der Klasse“, sagt Beatrice McNamara, die das Projekt wissenschaftlich begleitet und darüber promoviert. Jedes Vorwissen, das die Schüler*innen mitbringen, werde geschätzt. Jedes Talent wird anerkannt. Anregungen werden aufgenommen und flexibel in den Unterricht integriert: „Kein Schüler und keine Schülerin werden ausgeschlossen, niemand darf abgehängt werden.“

Seit längerem wird beklagt, dass Kinder allzu bald selektiert werden, dass die Leistungsbewertung nach einheitlichen Entwicklungsstandards ungerecht ist und Unterricht noch immer als „One-Man-Show“ stattfindet. Was im Münchner Projekt entwickelt wird, bezeichnet Beatrice McNamara als einen „Gegenentwurf“ zum etablierten Schulsystem in Bayern. Eins zu eins umgesetzt werden könnte es eigentlich nur mit einem Lehrer-Tandem. Aber auch Lehrpersonen, die alleine in der Klasse unterrichten müssen, profitieren von den auf der Webseite des Projekts zum Download angebotenen Materialien für einen inklusiven Musikunterricht.

Nicht-ideale Bedingungen im System Schule sind für Beatrice McNamara auf jeden Fall kein Grund, klein beizugeben. So müssen Musiklehrkräfte zwar die Leistung der Kinder und Jugendlichen am Ende des Schuljahres nach dem geltenden Notenvergabesystem bewerten. Gerade Lehrkräfte, die von der Idee „Inklusion“ beseelt sind, finden es bitter, eine Vier oder gar Fünf erteilen zu müssen: „Doch es wäre möglich, alternative Formen der Leistungsbewertung mit einzubeziehen“, sagt die Musikpädagogin. Und zwar solche, die aufzeigen, wie die individuelle Leis­tungsentwicklung war.

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