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Ritual und Freiheit

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Cluster (2013-12)
Publikationsdatum
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Neulich habe ich eine Aufzeichnung der Aufführung einer Bruckner-Sinfonie gesehen. Es gab das übliche Ritual zu Beginn. Das Publikum klatscht sobald der Maestro die Bühne betritt. Der verbeugt sich artig, wünscht seinem Konzertmeister alles Gute. Dann Stille. Und los geht’s. Die Musik beginnt zu klingen – erhebt sich langsam aus dem Orchesterpulk und füllt nach und nach jeden Winkel des Raumes. Umfasst einen, umschmeichelt einen, stößt einen zurück, macht ratlos, besänftigt, nimmt einen mit, lässt einen kalt.

Es gab eine Zeit, da fand ich dieses Ritual abgeschmackt, wie alle Rituale. Rituale dienen nur denen, die sich anders nicht orientieren können. Sie sind nicht nur überflüssig, sie verhindern die Entfaltung der Kunst. Heute sehe ich das anders. Im Gegenteil: Diese Rituale sorgen vor allem für einen fast reibungslosen Ablauf, der der klingenden Musik ihre Freiheit garantieren kann. Denn niemand stört einen beim Hören. Außer der quatschende Nachbar, die zu enge Hose, das plappernde Programmheft. Mit den Ritualen ist ein bisschen so wie beim privaten motorisierten Straßenverkehr oder bei der Zubereitung eines Essens. Und so empfindet man es als einigermaßen unangenehm, wenn einem wie in Loriots Sketch jemand ins Essen quatscht oder beim Autofahren zutextet mit Passagen aus der Straßenverkehrsordnung.

Aber vergiss es. Eine rastlose Pädagogen- und Vermittlerfraktion macht Jagd auf dumme Ohren, ungebildete Gehirne und auf Konventionen. In einer Welt, die sowieso nur aus Werbung besteht, gibt es keine andere Wahl. Musik ist eine Fremdsprache – aber eine universale, in der nur gestammelt werden kann.

Heute wird man mit 1000erlei Mitteln gezwungen die Dinge „neu“ wahrzunehmen und nicht überhaupt. Operninszenierungen machen es vor, das Konzert muss es nachmachen. Brimborium auf allen Kanälen. Musik ist die wichtigste Nebensache der Welt geworden, nämlich ihrer selbst.
 

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