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Schlitz im Hintern

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Bei der Siemens Preisverleihung sprach der vor zwei Jahren ausgezeichnete Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann die Laudatio über den neuen Preisträger Wolfgang Rihm. Er verteidigte, was des Musikwissenschaftlers Elexier scheinbar für immer ist: den großen Komponisten und seine in die Ferne wirkenden Werke. Daran saugt er sich fest, forscht und gründelt und findet Sachverhalte, die auf den Komponisten, so er noch lebt, selbst wie eine Offenbarung aus alchemistischer Gedankenküche wirken (was den toten Komponisten angeforscht wird, möchte man sich nicht ausmalen). Ein Kreislauf von Schaffen und Forschen?

Brinkmann bewerkstelligte das mit der Lockerheit eines mobileartig bewegten Vortrags (er wechselte immer die Sprechpulte), wohl mit der Absicht, über Bewegung Bewegtheit zu erzeugen. Zugleich verriet sich hierin eine innere Unruhe, die sich auf der Frage gründet, was einmal geschieht, wenn die Großkomponisten aussterben.

Rihm hatte das ja einmal im schöpferischen Selbstzweifel angedroht und an die Perspektiven Steuerberater, Bauchtänzer oder gar, wenn es ganz schlimm kommt, Musikwissenschaftler gedacht. Nein, riet da Brinkman, schon gar nicht das letztere. Der Komponist setze sich dem leeren Blatt aus, um es schließlich doch zu füllen. Der Musikwissenschaftler aber hinterlasse auch nach getaner Arbeit nicht allzu selten ein leeres Blatt (selbst wenn Worte darauf stehen). Wohl wahr. Es war ein gedankenreicher Vortrag voller schöner Erinnerungen, launiger Bemerkungen und keck ins Innere leuchtende Zitate. Vielleicht nahm man gerade deshalb das Dilemma heutiger Musikwissenschaft so drastisch wahr. Es gibt einen Spruch, sehr originell ist er zugegebenermaßen nicht, aber er wird heute laufend dringlicher: Musikwissenschaft ist eine Wissenschaft, die Musikwissen schafft. Musikwissen vermag aber in solchen Kreisläufen mit fraktal sich verkleinernden Beobachtungen immer weniger geschaffen werden. Die Musikwissenschaft ist in ihrer ursprünglichen Definition weitgehend am Ende. Sie läuft sich tot in ihren geschichtlichen Schürfprozessen, die längst nicht mehr auf ergiebige Ressourcen stoßen. Die Klosterbibliotheken sind ausgeweidet, dem Satz der Niederländer können nur Spitzfindigkeiten neue Aspekte (von Dimensionen mag man gar nicht sprechen) abringen. Dennoch tut man so, als mache man Business as usual. Dazu gehört auch das Beschwören des Großkomponisten oder das Beschwören von schöpferischen Musikern, möglichst Großkomponisten zu werden, auch wenn diese ganz anderes im Sinn haben. Denn so erhält man den Großkreislauf der rückgekoppelten Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme.
Dabei brauchen wir Musikwissen (und seine Wissenschaft), um den fortlaufenden Tendenzen musikalischer Verrohung stichhaltig begegnen zu können. Aber es muss eine sein, die sich nach vorne öffnet, nicht eine, die im Hintern noch einen Schlitz entdeckt, den sie durchleuchtet. Die Angst vor einem endgültigen Verschluss (sprich: die Abdankung der Großwerke) ist aus dieser unschönen Warte freilich durchaus verständlich.

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