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Schwierige Rehabilitation eines Missverstandenen

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Larry Todds Mendelssohn-Biografie und weitere Veröffentlichungen zum Gedenkjahr · Von Juan Martin Koch
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„Dann frug ich R., ob er meine, dass ein jeder Knabe eine wilde wüste Jugendzeit haben müsse, er meint: ‚Ja, schon um der heilsamen Sehnsucht willen, wieder zu sich zu kommen. Dies ist mir an Mendelssohn von je bedenklich erschienen, dass er nie außer sich geraten ist.’“ Richard Wagners altkluge Bemerkung, die Cosima Wagner 1869 in ihrem Tagebuch festhielt, umreißt die Konturen des rezeptionsgeschichtlichen Schattens, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts über der Beurteilung Felix Mendelssohn Bartholdys liegt.

Zum einen weil hier das Klischee vom Musiker, der – um die bis in die populäre Musik hinein wirksame Sprachregelung zu bemühen – den Blues am eigenen Leib erfahren haben muss, um ihn authentisch spielen zu können, auf Mendelssohns außergewöhnlich privilegierte Kindheit und Jugend angewandt wird. Zum anderen weil – eingedenk seiner unsäglichen, Mendelssohn jegliche Tiefe der „Herzensempfindungen“ absprechenden Schrift über „Das Judenthum in der Musik“ von 1850 – ein antisemitischer Subtext durchscheint, dessen Saat einige Jahrzehnte später so unheilvoll aufgehen sollte. Von den nicht erst aus dieser Zeit stammenden Vorurteilen, die ihr kaum mehr als oberflächlichen Klangreiz zusprach oder akademischen Klassizismus vorwarf, hat sich Mendelssohns Musik nur sehr mühsam erholt. Nach wie vor prägen einige wenige populär gewordene Werke das Bild des Komponisten, obwohl er viele Gattungen des 19. Jahrhunderts durch frische Ideen in Satztechnik, Form und  Klangfarbe nachhaltig geprägt hat.

An dem Aufschwung, den die Beschäftigung mit Mendelssohn seit den 1960er-Jahren wenigstens in der Musikforschung nahm, war (ein Echo auf Mendelssohns Präsenz und Popularität in England schon zu Lebzeiten) die englische Musikwissenschaft entscheidend beteiligt, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass der gewichtigste biografische Beitrag zum 200. Geburtstag des Komponisten die Übersetzung einer fünf Jahre alten englischsprachigen Publikation ist.

Larry Todd, der seit seinen Arbeiten über das Jugendwerk und die musikalische Ausbildung Mendelssohns zu den ausgewiesenen Spezialisten zählt, hat in akribischer Forschungsarbeit und mit bewundernswertem Überblick über Primär- und Sekundärquellen zweifellos das biografische Grundlagenwerk über Mendelssohn geschrieben.

Wer wissen will, was den Komponisten Monat für Monat bewegte, wo er sich aufhielt und konzertierte, mit wem er in direkten oder brieflichen Kontakt trat und woran er musikalisch arbeitete, kann dies hier zuverlässig nachvollziehen. Ein Panorama der Weite, das auch Mendelssohns stets über die Musik hinausweisenden intellektuellen Horizont kennzeichnet, tut sich auf, und dennoch hinterlässt die Lektüre des etwa 600 Seiten starken Hauptteils (es folgen 200 vorbildlich aufbereitete Seiten mit Anmerkungen, Bibliografie, Werkverzeichnis und Registern) am Ende ein Gefühl der Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass es Todd nicht gelingt, die Kernthemen der Mendelssohn-Rezeption, die er im Vorwort so souverän aufreißt, wirklich anzugehen.

Da wäre zunächst natürlich die Frage nach Mendelssohns religiöser Identität als protestantisch getaufter Sohn konvertierter Juden. Zwar führt Todd in seinem Prolog ausführlich in die diesbezügliche Familienhistorie ein, in der Moses Mendelssohn eine entscheidende Rolle spielte, doch ist ihm weder die Taufe seiner Enkel 1816 noch die Konversion Abraham und Lea Mendelssohns 1822 einen Exkurs darüber wert, welche Auswirkungen diese Entscheidung der Eltern auf Felix’ Selbstverständnis gehabt haben könnten.

Auch was das komplexe und für Mendelssohns persönliche wie künstlerische Entwicklung hochbedeutsame Verhältnis zu seiner Schwester Fanny betrifft, kann Todds Verfahren, das Thema nur dann immer wieder zu streifen, wenn es gerade in die Chronologie passt, nicht überzeugen (Ähnliches gilt für den Vater). Natürlich ist das regelmäßige Miteinbeziehen von Fannys Kompositionen sinnvoll, eine zusammenfassende Einschätzung, was das Besondere dieser Beziehung war, bleibt Todd uns aber schuldig. So bleibt auch die Beschreibung der Wirkung ihres Todes auf den Bruder an der mit fragwürdiger Inspiration verbalisierten Oberfläche: „Er hatte sein Minerva verloren, seinen Thomaskantor mit den dunklen Augenbrauen.“ (S. 608). Und zu Mendelssohns kurz danach entstandenen Aquarellen des Rheinfalls dürfen wir erfahren: „Die aufgewühlten Wassermassen spiegelten den Aufruhr seiner Seele wider.“ (S. 609).

Todds streng an der Biografie orientierte Gliederung wirkt sich auch bei der Werkbetrachtung nicht immer vorteilhaft aus. So werden die ersten Entwürfe oder Fassungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zwar erwähnt, doch wird weder hier auf das später vollendete oder revidierte Werk verwiesen, noch greift der entsprechende Kommentar (etwa zur Hebriden-Ouvertüre oder zur Schottischen Symphonie) die frühere Werkgestalt nennenswert auf. Ein charakteristischer Wesenszug der Kompositionsweise Mendelssohns, den dieser einmal selbst als „Revisionskrankheit“ bezeichnet hat, bleibt somit im Nebulösen.

Naturgemäß unterschiedlich in ihrer Qualität und Ausführlichkeit sind die erfreulich zahlreichen Werkbesprechungen selbst (mit vielen Notenbeispielen). Auch hier wären gattungsbezogene Schwerpunkte sicher aussagekräftiger gewesen und Wiederholungen wie die hübsche, aber nicht unbedingt vielsagende Formulierung von der „teleskopierten“ Konzertform hätten vermieden werden können (S. 285, 295, 401).

Ausführliches ist zum „Paulus“ und zum „Elias“ zu lesen, wobei Todd dort, wo es um eine über den reinen Notentext hinausgehende Interpretation geht, gerne auf Sekundärliteratur verweist, ohne selbst eindeutig Stellung zu beziehen. Das gilt für die Deutung der Oratorien als religiöse Statements ebenso wie an anderer Stelle für die Frage nach absoluter und Programmmusik, der Todd mehr ausweicht, als dass er sie stellt.
So verwundert es am Ende nicht, dass Todd kaum handfeste Argumente sammelt, um die im Vorwort (S. 13) so treffend versammelten abfälligen Gemeinplätze über Mendelssohns Musik als solche zu entlarven.

Stellvertretend sei der halbherzige Versuch genannt, die Streichquartette op. 44 gegen den Vorwurf des Reaktionär-Klassizistischen zu verteidigen (S. 409–411). Schade also, dass Todd die deutsche Übersetzung nicht dazu genutzt hat, sein Buch durch einige Exkurse in die spannende Diskussion einzubetten, die spätestens seit dem 1974 von Carl Dahlhaus herausgegebenen Sammelband „Das Problem Mendelssohn“ geführt wird und durch interessante Ansätze der englischsprachigen Musikwissenschaft bereichert worden ist.

Einige der Defizite von Todds Herangehensweise werden indes durch andere Jubiläumspublikationen kompensiert: So erlaubt der Katalog zur Ausstellung der Berliner Staatsbibliothek mit seinen hervorragend reproduzierten Handschriften einen Einblick in Mendelssohns Komponierwerkstatt, und Andreas Eichhorn gelingt es in seiner kleinen, ausgezeichneten Monografie auf engstem Raum entscheidende Aspekte seines Lebens und Schaffens zu skizzieren. Erfreulich ist auch der Reprint (nebst Neudruck in moderner Typografie) der kleinen Schrift „Goethe und Felix Mendelssohn“, die sein Sohn Karl 1871 veröffentlichte, wenngleich die Druckqualität höher und das Nachwort ausführlicher hätten ausfallen können.

Zum Kern des Menschen und Musikers Mendelssohn ist freilich nur mittels seiner Briefe vorzudringen. Neben den Fortschritten in der Gesamtausgabe der Werke ist somit die lang ersehnte Publikation des ersten Bandes (zwölf sind ge­plant) einer wissenschaftlichen Brief­edition zweifellos die bedeutsamste Frucht des Gedenkjahres. Durch Anmerkungen und ein Register sorgfältig erschlossen ist dies das Buch, in dem man sich sofort festliest, weil klar wird, dass Mendelssohn hier zwar nicht außer sich gerät, aber eben doch ganz bei sich ist.

  • R. Larry Todd: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik. Carus Verlag/Reclam, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-89948-098-6, 800 S.,€ 49,90
  • FELIX. Felix Mendelssohn Bartholdy zum 200. Geburtstag. Katalog zur Ausstellung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, hrsg. von Christine Baur und Roland Dieter Schmidt-Hensel. Carus Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-89948-116-7; 176 S., € 24,90
  • Andreas Eichhorn: Felix Mendelssohn Bartholdy. C.H. Beck Verlag, München 2008, 127 S. ISBN 978-3-406-56249-5, € 7,90
  • Karl Mendelsohn Bartholdy: Goethe und Felix Mendelssohn Bartholdy. Reprint der Originalausgabe von 1871, hrsg. von Manja Lippert. Staccato Verlag, Düsseldorf 2008, 51 S. (Reprint) / 40 S. (Transkription), ISBN 978-3-932976-37-7, € 16,80
  • Felix Mendelssohn Bartholdy: Sämtliche Briefe. Band 1 (1816 bis Juni 1830). Bärenreiter Verlag, Kassel 2008, ISBN 978-3-761823-00-2, 750 S., € 149,-

 

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