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Sechsundvierzig ausgewertete Kartons

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Oliver Hilmes hat die bisher umfassendste Biografie über Alma Mahler-Werfel vorgelegt
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Oliver Hilmes: Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel, Siedler Verlag, München 2004, 478 S., Abb., € 24,00, ISBN 3-88680-797-5

Wie konnte das passieren? Da lagern in der Van-Pelt-Library von Philadelphia, verteilt auf 46 Kartons, rund 5.000 Dokumente, von denen zwar die Spezialisten wussten, um deren Auswertung sich aber bis dato niemand gekümmert hatte. Es handelt sich ausnahmslos um an Alma Mahler-Werfel gerichtete Briefe, unzählige Postkarten und Manuskript-Fetzen.
Zwar hatten die Bibliotheksangestellten sich einige Zeit zuvor bereits daran gemacht, diese Quellen zu katalogisieren, doch mehr als eine rudimentäre Such-und-Find-Liste ist dabei nicht herausgekommen, bis im Sommer 2000 ein studierter Historiker, Politologe und Psychologe vom linken Niederrhein vorstellig wurde. Oliver Hilmes besaß von dieser Sammlung Kenntnis und wollte sie für seine Arbeit an einer Mahler-Werfel-Biographie nutzen.

Deshalb wandte er sich vertrauensvoll an Mrs. Shawcross, die zuständige Kustodin, die ihn eindringlich vor diesem Chaos warnte. Doch Hilmes ließ sich nicht entmutigen, er stieg ein und stieß vor, er vergrub sich und trat am Ende mit einem Buch an die Öffentlichkeit, das nicht nur „sorgfältig“ recherchiert sowie „frei von Beschönigungen“ und „Besserwisserei“ (FR) gehalten sei, sondern darüber hinaus mit jedem „Epochenkitsch“ (NZZ) aufräume und als die „ausführlichste“ und „sicherlich definitive“ (SZ) Mahler-Werfel-Biographie gelten dürfe. Nicht nur in Philadelphia, auch in anderen Bibliotheken war Hilmes als Dokumenten-Fahnder erfolgreich, wenn auch nicht so spektakulär.

„Alma schrieb sich bereits als Backfisch von der Seele, was sie erlebt, gedacht, gesagt, gehört, gefühlt, geträumt, gewünscht hatte. Sie führte jahrzehntelang nicht regelmäßig und nicht in chronologischer Abfolge ein bloß berichtendes Tagebuch, sondern notierte auf losen Blättern, was um sie herum, was mit ihr und vor allem in ihr geschah. Es handelte sich im Wortsinne um ihr ,journal intime‘.“ Allerdings klaffte bisher eine große Lücke, die sich mit dem 16. Januar 1902 öffnete, kurz vor Almas Heirat mit Gustav Mahler. Unter diesem Datum enden nämlich ihre 1997 erstmals in Buchform der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Tagebuch-Skizzen. Wenn man sich vorstellt, dass allein der Zeitraum zwischen 1898 und 1902 knapp 800 eng bedruckte Seiten füllt, lässt sich leicht ausmalen, wie viel sie in den Folgejahren zusammengeschrieben hat. Jedoch sind ihre übrigen Tagebücher verschollen, zumindest im Original. Denn Oliver Hilmes stützt seine Biographie unter anderem auf Almas eigenhändige, aus dem Jahr 1924 stammende Abschriften ihrer Tagebücher von 1902 bis 1905 und 1911. In zwei Typoskripten, die zusammen mehr als 1.000 Seiten umfassen, finden sich weitere Notizen aus der Zeit zwischen 1902 und 1944. Hilmes hat dieses Quellenpuzzle für uns lesefreundlich aufbereitet. Dabei lässt er sich weder von feministischen noch von sonstigen Ideologien irremachen, sondern hält sich mit aller notwendigen Akribie an die Fakten.

Dass dieses Buch für gleich mehrere Interessensgruppen neue Betrachtungen, Ergänzungen und aufgedeckte Widersprüche parat hält, kann nicht verwundern; die Germanisten hatten auf Alma wegen ihrer Beziehung zu Franz Werfel ein Augenmerk geworfen, für die Vertreter der Bildenden Künste war sie wegen ihrer Nähe zu Gropius und Kokoschka prominente Kronzeugin, und die Historiker dürfen nun ihre Person präziser einordnen, da Hilmes all ihre antisemitischen Äußerungen zusammengetragen hat. Und die Musikwissenschaft?

Hier liefert das neue Buch vornehmlich vertiefende Belege, etwa wenn es Indizien für den Prozess einer sich zerrüttenden Ehe benennt. So war Alma eifersüchtig, wenn Gustav gemeinsam mit zwei Sopranistinnen das Glas erhob.

Sie trauert noch 1903 wiederholt ihrer eigenen – um Gustavs Willen aufgegebenen – Komponistentätigkeit nach: „Ich habe meine Sachen wieder gespielt, ich fühle immer – DAS, DAS, DAS! […] Ich liebe MEINE Kunst! Alles, was ich heute spielte – so vertraut! So tief vertraut.“ Im Jahre 1920 stoßen wir auf einen Eintrag, der sich auf die Zeit im Frühjahr 1911, also kurz vor Mahlers Tod am 18. Mai, bezieht. Wie ein Geständnis schockiert die Aussage: „Gustavs Tod auch – habe ich gewollt. Ich liebte einst einen Andern und er war die Mauer, über die ich nicht steigen konnte.“

Ebenso erschütternd sind ihre Aufzeichnungen vor dem Hintergrund ihrer Mutterrolle. Gleichfalls 1920 erinnert sie sich an jene Vorkommnisse dreizehn Jahre zuvor, als im Sommer 1907, ihre Tochter Maria an Diphtherie erkrankt war und sie – mit Gustav – noch einmal die todkranke Tochter durch die Fensterscheibe sehen kann: „Gustav winkte verliebt hinauf. War er das? Ich weiß es nicht, aber plötzlich wusste ich: Dieses Kind muss weg. Und sofort. Um Gotteswillen! Weg den Gedanken! Weg das verfluchte Denken. Aber das Kind war tot nach ein paar Monaten.“

Hilmes hält sich aber nicht nur an Fakten und Zitate, sondern versucht auch das psychologische Moment dahinter zu erklären. „Sehnte etwa Alma den Tod ihrer eigenen Tochter herbei? War Alma eifersüchtig auf Maria, schlimmer noch, sollte das Mädchen sterben, weil es der ganze Stolz des Vaters war? Obwohl man vor der Konsequenz dieses Gedankens zurückschreckt, ist auffällig, dass Alma bei der späteren Überarbeitung ihres Tagebuchs über den Halbsatz aber ,plötzlich wusste ich:‘ das kleine Wörtchen ,wünschte‘ schrieb.“

In „Witwe im Wahn” zeichnet Oliver Hilmes ein überaus konkretes, detailnahes, aber nie – wie in zahlreichen anderen Biografien – ein durch persönliche Nähe gefährdetes Porträt. Er entlarvt und wertet, er flickt zusammen und schiebt auseinander, er regt im Einzelnen gewiss zum Widerspruch an und liefert doch ein äußerst glaubwürdiges Bild von einer Person, die selbst zum personifizierten Widerspruch geworden ist.

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