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Space Night

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Die mit Abstand beste Fernsehsendung in unserer eintönig-bunten Medienlandschaft ist die „Space Night“ des Bayerischen Fernsehens. Wie alles von Qualität wird sie außerhalb der Hauptsendezeiten ausgestrahlt, genauer: vom Ende des regulären Programms bis zum Sonnenaufgang. Eine Sendung für Nachteulen.

Zu sehen sind stundenlange Zusammenschnitte von Filmaufnahmen US-amerikanischer Raumfahrer: Die Erde aus immer wieder anderer Perspektive, Blicke ins All, Innenaufnahmen aus den Raumschiffen.

Wer Glück hat, erwischt eine der sensationellen Aufnahmen von den Mondexpeditionen um 1970, die unter dem Namen „Apollo-Programm“ in die Geschichte eingegangen sind. In Anbetracht des täglichen Bild- und Akustikschrotts ist das, was einen hier erwartet, von geradezu kathartischer Wirkung. Nach dem üblichen Turbogerede über Hitler, Hartz und die Hautcreme von Uschi Glas wird man als Erstes mit einer radikalen Entschleunigung konfrontiert. Die Bilder, die die Echtzeit der Satellitenbewegung wiedergeben, laufen wie in Zeitlupe ab. Unterstützt durch die ereignisarme Begleitmusik zwingen sie den Betrachter zu einer verlangsamten Wahrnehmung. Er kann seine Aufmerksamkeit in aller Ruhe auf ein Bild und seine Details richten. Es herrscht eine Zeitempfindung vor, als hätte Morton Feldman Regie geführt.

Die Ansichten der Erde, einmal aus detailgenauer Nähe, einmal aus fremdartiger Fernperspektive, sind heute in den allgemeinen Bildervorrat eingegangen. Und doch beschleicht einen nach wie vor ein eigentümliches Gefühl angesichts dieser irgendwo im Raum schwebenden kleinen Kugel, die unsere Heimat ist, auf der wir als Winzlinge herumlaufen, Straßen und Häuser bauen, Meere überqueren und „Space Night“ schauen. Es gibt wohl keine zweite Fernsehsendung, die eine solche Vielfalt an Assoziationen und Spekulationen zu wecken vermöchte – und das zum Glück ohne die Kommentare beflissener Moderatoren.
Neben der eigenen Kleinheit rufen die Bilder noch etwas anderes ins Bewusstsein: die alten Menschheitsträume von der Eroberung der Welt und der Überwindung der eigenen Beschränktheiten. Das gängige Wort dafür ist Grenzüberschreitung, sowohl materiell als auch geistig verstanden. Die Domäne, in der sich dieser rational nicht begründbare Drang artikuliert, ist die Imagination. Hier liegt die Wurzel für all die wirklichkeitssprengenden Visionen, die das Denken immer wieder bewegt haben.

Der Drang zur Grenzüberschreitung ist der Antrieb der Wissenschaft. Er liegt auch der Suche nach dem Neuen in der Kunst zugrunde. Heute meinen allerdings manche Künstler, es genüge, diese Suche ohne Blick nach draußen zu betreiben – rein im Inneren des Materials, im Vertrauen auf den eigenen schwachen Verstand und garniert vielleicht mit einigen soziologischen Referenzen.

Diese Art von Materialismus passt zwar gut zum neoliberalen Zeitgeist. Doch fruchtbarer für die Suche nach Neuem wäre es, wieder ein wenig das Staunen zu lernen über die jenseits heutiger Erfahrungen liegenden Wirklichkeiten. Diese gälte es zu erschließen – im Dialog mit den Wissenschaften, aber mit genuin künstlerischen Mitteln. Für Begriffsstutzige könnte dazu ein Blick in die „Space Night“ hilfreich sein.

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