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Schätze aus dem EMI-Archiv
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Wenige Archive beherbergen Tondokumente solchen Ranges wie diejenigen der EMI, und in den letzten Jahren hat man sich daran gemacht, diese in umfangreichen, sehr preiswerten CD-Boxen herauszugeben. Eine Neue Serie nennt sich Icon und präsentiert unter anderem sämtliche bei EMI veröffentlichten Aufnahmen von zwei der größten Pianisten und Musiker des 20. Jahrhunderts: Arturo Benedetti Michelangeli und Dinu Lipatti.

Wer an Klavierspiel höchster Klasse und unübertroffener Verwirklichung stilistischer und struktureller Herausforderungen interessiert ist und sich nicht auf Showeffekte und gehobene Mittelmäßigkeit einlassen möchte, liegt hier richtig. Lipatti (1917–50), der auch ein veritabler Komponist war und früh an Leukämie starb, hat mit den wenigen Bach-, Scarlatti-, Mozart-, Schubert-, Chopin- oder Ravel-Aufnahmen ein in seiner luziden Hingabe und kraftdurchströmten Leichtigkeit zeitlos fesselndes diskographisches Vermächtnis hinterlassen, das über jeden Zweifel erhaben ist, und keine Aufnahme eines Enescu-Klavierwerks kommt seiner Darstellung der Dritten Sonate gleich. Enescus Sonaten für Violine und Klavier zusammen mit dem Komponisten und Lipattis eigenes Concertino en style classique sind, obwohl längst public domain, nicht hinzugefügt worden.

Michelangeli ist ein Mythos, wie die Musikwelt keinem vergleichbaren begegnet ist. Sergiu Celibidache beispielsweise, der oft mit ihm konzertierte, bezeichnete ihn als den „größten Musiker des Jahrhunderts“. Die hier vorgelegte 5-CD-Box ist eine vortreffliche Ergänzung zu den später entstandenen Einspielungen für die Deutsche Grammophon. Angesichts des durchgehenden Ausnahmerangs fällt es schwer, „Highlights“ zu nennen, doch seien Beispiele gegeben: die jenseits jeden billigen Affekts angesiedelte 3. Sonate C-Dur von Beethoven (was für eine Beherrschung selbst des kleinsten Details im Dienste der umspannenden großen Form, was für eine Präsenz, Energie und Gelassenheit), das so pianistisch überwältigende wie feinstrukturell disziplinierte Feuerwerk von Brahms’ Paganini-Variationen, die Transzendenz der zirzensischen Magie in Ravels G-Dur-Konzert, die restlose Ausfaltung des Potentials in den Miniaturen aus Schumanns „Album für die Jugend“, natürlich Schumanns „Carnaval“ und das wenig populäre und umso gehaltvollere 4. Klavierkonzert von Rachmaninow.

Ganz besonders erfreulich sind auch zwei Veröffentlichungen im Rahmen der Opera Series: die konkurrenzlos hochkarätigen Einspielungen von George Enescus Hauptwerk, der Tragédie lyrique „Œdipe“, und von Albert Roussel das prachtvoll-dunkelgetönte Opéra-ballet „Padmâvatî“ (1914/18). Während der „Œdipe“ zwischenzeitlich in viel blasseren, unzureichenderen Darbietungen zu bekommen war, ist das ambitionierteste Bühnenwerk von Roussel, dem neben Debussy und Ravel bedeutendsten französischen Komponisten seiner Zeit, lange Jahre überhaupt nicht erhältlich gewesen. Das ist angesichts der Tatsache, dass es sich um eine der musikalisch interessantesten und originellsten Opern der ersten Jahrhunderthälfte handelt, eine beschämende Tatsache.

Jetzt, wo soeben in der Serie „Repertoire Explorer“ (www.musikmph.de) erstmals die Studienpartitur des Werkes im Druck erschienen ist, liegt endlich auch die mit großen Sängern besetzte Referenzaufnahme unter Michel Plasson wieder vor, und so ist jedem Interessierten die Möglichkeit zur gründlichen Auseinandersetzung mit dieser einmaligen Musik eröffnet. Man kann feststellen, dass Roussel – obwohl sein Name hin und wieder in Konzertprogrammen aufscheint – zu den unterschätztesten Komponisten der klassischen Moderne zählt, sei es als Symphoniker oder in seinen Bühnenwerken.

Für Enescu gilt übrigens nichts anderes, und ich möchte mit dem Appell schließen, die Musik dieser beiden Meister einer eingehenden Prüfung und Neubewertung zu unterziehen. Sowohl „Œdipe“ als auch „Padmâvatî“ sind für jedes Opernhaus höheren Levels ernsthafte Kandidaten für Neuinszenierungen von überregionaler Tragweite, und, was die musikalische Substanz betrifft – wie hier überzeugend zu hören ist –, ohnehin über jeden Zweifel erhaben.

Dinu Lipatti: Werke von Bach, Scarlatti, Mozart, Schubert, Schumann, Chopin, Liszt, Brahms, Grieg, Ravel, Bartók, Enescu (7 CDs); EMI Classics 207 318-2

Arturo Benedetti Michelangeli: Werke von Bach/Busoni, Scarlatti, Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Chopin, Brahms, Grieg, Debussy, Rachmaninov, Ravel, Albéniz, Granados, Mompou (5 CDs); EMI Classics 206 005-2

Albert Roussel: Padmâvatî; Marilyn Horne, Nicolai Gedda, José van Dam, Orféon Donostiarra, Orchestre du Capitol de Toulouse, Michel Plasson (2 CDs); EMI Classics 381 867-2

George Enescu: Œdipe; José van Dam, Barbara Hendricks, Nicolai Gedda, Brigitte Fassbaender, Marjana Mipovsek, Orféon Donostiarra, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Lawrence Foster (2 CDs); EMI Classics 208833-2.

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