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Titelseite der nmz 2015/02.
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Überschätzen wir die Macht der Kultur?

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Nachdenkliches aus aktuellem Anlass · Von Barbara Haack
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Ist schon alles geschrieben, gesagt, gedacht? Natürlich sind wir als nmz-Redaktion tief betroffen von den Ereignissen in Paris, als Menschen ebenso wie als Teil der Medienlandschaft, die durch das Attentat auf eine Zeitungsredaktion massiv angegriffen wurde. Natürlich bekennen wir uns zu den Grundsätzen der Presse- und Meinungsfreiheit, wie es unzählige Menschen, Politiker und auch Journalisten und Redaktionen getan haben. Ob wir auch „Charlie“ sind, haben wir redaktionsintern intensiv diskutiert: im Sinne einer Solidaritätsbekundung sind wir das sicher. Aber dürfen wir uns wirklich anmaßen, uns gleichzusetzen mit mutigen Kollegen, die, um die persönliche Gefährdung wissend, sich ihre freiheitlichen Rechte nicht haben nehmen lassen? Wären wir im „Ernstfall“ ebenso unerschrocken und würden Leib und Leben riskieren? Wir wissen es nicht – aber wir ziehen unseren Hut.

Am Tag nach Paris haben einige Politiker gesagt, nun müsse man Antworten finden. Vielleicht aber sollten wir erst einmal Fragen stellen, die „richtigen“ Fragen. Als Musikzeitung, die seit Jahrzehnten für den gesellschaftlichen Stellenwert der kulturellen und musikalischen Bildung ins Feld zieht, fiele es uns jetzt leicht, den Mangel eben dieser kulturellen Bildung zur Ursache eines unmenschlichen Verhaltens zu erklären, das wir ansonsten nicht verstehen. Aber auch diese Überzeugung, der Glaube an den Wert einer kulturellen Bildung, wie wir sie schon immer vertreten, soll an dieser Stelle in Frage gestellt werden: Hätten sich die jungen Menschen, die zum Kämpfen nach Syrien gehen, die Attentate planen und kaltblütig Morde begehen, anders entwickelt, wenn sie als Kinder eine Musikschule besucht, in einem Chor gesungen hätten? Haben sie womöglich Zugang gehabt zu diesen Angeboten und sich dennoch radikalisiert? Wie hoch ist er wirklich, dieser Wert der kulturellen Bildung – angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Welt?

Immerhin: Im Vergleich mit vielen anderen Ländern sind Vermittlung von Kunst und Kultur im Kindes- und Jugendalter in Deutschland hoch angesehen und erfahren vielerlei Förderung. Eine Verbindung herzustellen zur Tatsache, dass Terror- und Gewaltgefahr bei uns scheinbar geringer sind als anderswo, wäre aber zu kurz gedacht. Diejenigen, die allwöchentlich als „Pegida“ auf die Straße gehen, sind zwar nicht unbedingt gewaltbereit, aber auch sie wenden sich ab von Grundwerten der Toleranz und Menschlichkeit, indem sie einer behaupteten Islamisierungsgefahr entgegentreten. Und sicher hat der eine oder andere dieser Menschen in seiner Kindheit ein Instrument gespielt.

Vielleicht hätte es geholfen, wenn er nicht nur mit Mozart und Beethoven Bekanntschaft geschlossen hätte, sondern auch mit anderen, zunächst „fremden“ Musikkulturen. Wir reden von Integration und Offenheit gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen. Und wir reden von kultureller Bildung. Aber beides bekommen wir nicht zusammen. Hier anzusetzen könnte sich lohnen. Dass nun die Baglama, lange erkämpft, zum Wertungsinstrument bei „Jugend musiziert“ wird, ist ein Symbol für kulturelle Offenheit. Wenn es aber dabei bleibt, ist diese Öffnung allenfalls ein Feigenblatt. Da lohnt es sich, ein Auge auf das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ des Deutschen Chorverbandes zu werfen. Hier entdecken und präsentieren so genannte Migranten die Lieder ihrer Ursprungsländer oder die ihrer Eltern oder Großeltern. Sicher gibt es anderswo ebensolche Pflänzchen, aber sie blühen im Verborgenen und werden nicht unterfüttert durch breit angelegte Bildungs- und Ausbildungskonzepte. Denn Vermittler für solche übergreifenden Kulturbegegnungen sind bei uns Mangelware. „Was Migration betrifft, geht es in Deutschland nicht um Kulturvermittlung, sondern um Kultur-Ermittlung – das Ende der Ignoranz“, erklärt Migrationsforscher Mark Terkessidis in der „Chorzeit“ (Dezember 2014).  Abgesehen von der gesellschaftspolitischen Relevanz verspricht solche Begegnung eine echte kulturelle Bereicherung, mag sie auch zunächst fremd und damit durchaus „anstrengend“ sein.

Nochmal gefragt: Haben wir die Macht von Kultur und Kulturvermittlung überschätzt? Müssen wir nicht resignieren, wenn wir sehen, dass die Menschen offenbar nichts gelernt haben, dass sie auch heute überall in der Welt ihre Ideologien mit Gewalt durchsetzen wollen? Seit langem wissen wir, dass auch böse Menschen ihre Lieder haben und mit diesen erfolgreich Wirkung im Sinne ihrer Ziele erreichen. Hier differenzieren zu lernen, muss ein zentrales Anliegen kultureller Bildung sein. Dafür bedarf es eines übergreifenderen Bildungsbegriffs, der Kultur ebenso vermittelt wie die Wirkung von Kultur, wie Kulturgeschichte und Kulturpolitik.

Einige der radikalen Gruppierungen, die derzeit versuchen, im Namen einer selbstgezimmerten Ideologie, die sie „Islam“ nennen, ganzen Völkern Freiheit und Lebensfreude zu rauben, verbieten es den Menschen, Musik zu hören und zu musizieren. Das sollte uns Mut machen: Diese „bösen Menschen“ haben die explosive Kraft erkannt, die in der Musik steckt: eben doch eine freiheitliche, offene und universelle Kraft, die sich der Gewalt entgegenstellt. Wenn es gelänge, uns den Glauben an diese Kraft zu nehmen, dann hätten diese Menschen gewonnen. Das ist dann doch so etwas wie eine Antwort …

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