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Aufgebahrte Zuhörer: Konzerterlebnis als Nahtoderfahrung? Foto: Ladislav Zajac
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Und übrig bleibt das Ohr – Sabrina Hölzer und ihr Projekt „Now I Lay Me Down“ in Berlin

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In der Neuen Musik ist das Überschreiten von Grenzen, sei es in Genre, Stil, instrumentaler, virtuoser oder akustischer Leistung, heute nahezu eine Pflichttugend, von der jeder spricht, kaum einer jedoch so recht weiß, welche Vision genau sich dahinter verbirgt. Einzig das Bedürfnis, sich von etwas zu befreien, ist deutlich. Der Regisseurin Sabrina Hölzer und dem Solistenensemble Kaleidoskop ist mit dem Projekt „Now I Lay Me Down“ eine eindeutige Form von Grenzüberschreitung gelungen, die sich äußeren, theoretischen Definitionen entzieht.

Der Nachweis ist unanfechtbar, denn es erbringt ihn der eigene Körper. Die unbeweglichste aller Grenzen, nämlich die zwischen dem Ich und der Außenwelt, wird hier durch ihre Auflösung überwunden.

Betritt man den Bühnenraum im Haus der Berliner Festspiele, fühlt man sich zunächst an die Friedhofsbesuche mit den Großeltern erinnert. In dämmrig warmem Licht stehen in Reih und Glied erhöhte Liegeflächen wie Bahren, jede ausgelegt mit einem Stück Rollrasen. Mit Decke und Wollsocken ausgestattet darf man sich hier zur Ruhe legen, und zu der Sinfonia aus Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21 erlischt über der Gräberlandschaft langsam das Licht.

Dass diese morbide Assoziation nicht ganz abwegig ist, bestätigen die in der Dunkelheit erklingenden Worte aus E.E. Cummings’ Gedicht, nach dem das Projekt „Now I Lay Me Down“ benannt ist. Er spricht von Sonne, Tag und Leben als Leihgaben, während Nacht, Tod und Regen Grundgegebenheiten sind. Und es dauert nicht lange, da fühlt man sich tatsächlich in eine Art Urzustand versetzt, in dem die gewöhnliche Sinneshierarchie „Auge vor Ohr“ und damit auch unser gewohntes Orientierungssystem aufgehoben sind. „What a gently welcoming darkestness“ – Sabrina Hölzer hat Cummings beim Wort genommen und ein Superlativ von Dunkelheit geschaffen, in das nicht die allerleiseste Spur von Licht dringt. Keine Form, keine Bewegung, keine Gestalt, noch nicht einmal die eigene, sind mehr zu erahnen.

Übrig bleibt das Ohr, das nun die Kraft aller Sinne in sich vereint und vom Solistenensemble Kaleidoskop durch eine nur vermeintlich vertraute Klanglandschaft geführt wird, in der ein einziger Ton ein körperliches Erlebnis sein kann. So empfindet man in Michael Rauters neuem Werk „Eintondings“ jede mikrotonale Schwankung und jede Bewegung der Musiker im Raum als einschneidende Veränderung der Klangsituation, und man selbst wähnt sich quasi als Bewohner eines dreidimensionalen Obertonspektrums. Neben den experimentellen Gemeinschaftskreationen des Ensembles „NILMD 1&2“ – sanfte Klangrutschen, die organisch in die bach’schen Kantatensätze hinein- oder aus ihnen hinausführen – begegnet das Ohr bekannten Werken von Benjamin Britten, George Crumb und sogar dem lieblichen Klassikhit „Adagio for Strings“ von Samuel Barber, bearbeitet von Michael Rauter. In gedrosseltem Tempo mit scheinbar aufgelöstem Metrum taucht auch hier, nach Entsorgung sämtlicher Orientierungskrücken, ein neues Stück aus der Dunkelheit auf. Das Spiel mit Raum und Zeit baut hier effektiv auf Gegensätze, die Hölzer immer da einsetzt, wo man beginnt, sich an einem bestimmten Parameter in die Gewohnheit zurückzutasten: Mit Patterns aus Steve Reichs „Stomping Music“ folgt der Pulsauflösung in der Barber-Bearbeitung eine Dosis reiner Rhythmik, die wiederum nur das Raumempfinden im Dunkeln schärft. Jeder Rückweg in alte Orientierungsmuster wird versperrt, und das macht die Qualität des Abends aus, die über das reine Lichtlöschen hinausgeht.

Die radikale Abwesenheit visueller Reize, die tagtäglich den Löwenanteil unserer Sinnesverarbeitungskapazität verschlingen, erweist sich als ideale Hörvoraussetzung nicht nur für neue, sondern auch für alte, wohlbekannte Musik. Man entdeckt sie neu – doch in Wahrheit entdeckt man sich selbst neu. Das kann man nur als Geschenk entgegennehmen und dazu die Erkenntnis speichern, dass Entzug nicht Verlust bedeuten muss. Und tatsächlich meint man die Dunkelheit in „Now I Lay Me Down“ als einzig wahren Zustand zu erkennen, aus dem man nicht wieder auftauchen möchte.

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