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„Unser Kind ist ein typisches Cello-Kind“

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Subjektive Theorien von Eltern zur Passung von Musikinstrumenten für Kinder
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JeKi1 – nie zuvor gab es ein vergleichbares Angebot für Schülerinnen und Schüler, ein Instrument zu erlernen und sich damit eine Welt zu erschließen, die ihnen in den allermeisten Fällen sicher verschlossen geblieben wäre.2 War bisher das Erlernen eines Instrumentes meist an besondere Bedingungen geknüpft – eher bildungsnahe, unter Umständen musikbezogen geprägte Elternhäuser, entsprechende sozio-ökonomische Verhältnisse et cetera –, so wenden sich die JeKi-Angebote an alle Schülerinnen und Schüler der Primarstufe, unabhängig von schichtspezifischen, ethnischen, religiösen, musikbezogenen oder anderen Prägungen.

Das aber heißt: Auch die Familien sind oft mit einer „neuen Welt“ konfrontiert, deren Repräsentant – ein „echtes“ Musikinstrument – Anforderungen stellt und Fragen herausfordert. Was bedeutet die Konfrontation mit diesen Fragen und Anforderungen für die Eltern? Hier setzt eine Studie an, die einem Teilaspekt dieser Frage nachgehen möchte: Wie erleben Eltern das Verhältnis zwischen Kind und Instrument? Wie beurteilen sie dieses Verhältnis? Wie wichtig ist ihnen, dass dies ein „gutes“ Verhältnis sei, dass Kind und Instrument zueinander „passen“?

Der in der Überschrift zitierte Ausspruch einer Mutter über ihr Cello spielendes Kind lässt vermuten, dass Eltern zumindest eine Art Empfindung dafür entwickeln können, ob ein Instrument zu ihrem Kind passe oder nicht. Dieses Phänomen geriet im Rahmen einer Begleitstudie zum Schulprojekt „Jedem Kind sein Instrument“ an einer Waldorfschule in NRW in den Blick.3 Hier erhalten Kinder im zweiten und dritten Schuljahr Instrumentalunterricht auf Instrumenten, die sie gegen Ende der ersten Klasse im Rahmen eines Instrumentenkarussells gewählt haben.

Im Zuge der Datenerhebung wurde Eltern die Frage gestellt: „Passt das Instrument, das Ihr Kind ausgewählt hat, Ihrer Meinung nach zu Ihrem Kind?“ Die Antworten verblüfften: In fast allen Fällen konnten die Eltern die Frage nicht nur – positiv oder negativ – beantworten, noch erstaunlicher war, dass sie auch der Bitte um Erläuterung zum Teil recht differenziert nachkamen. Dies wurde zum Anlass, dem vorliegenden Phänomen (Eltern haben Aspekte, warum ein Instrument zu ihrem Kind mehr oder auch weniger gut passt) in einer gesonderten Studie4 nachzugehen.

Um ein Ergebnis zusammenfassend vorweg zu nehmen: Am Material von sieben Interviews ließen sich insgesamt 17 elterliche Passungstheorien explizieren, die – gemäß einem wesentlichen Charakteristikum der Methodologie des „Forschungsprogramms Subjektive Theorien“5 – im Rahmen eines kommunikativen Validierungsprozesses von den Interviewpartnern6  als rekonstruktionsadäquat bestätigt werden konnten. Inhaltliche wie auch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den Passungstheorien unterschiedlicher Interviewpartner waren teilweise so deutlich, dass sie in identischer Formulierung für verschiedene Fälle gelten konnten. Anhand 23 schriftlicher Statements weiterer Elternhäuser zur Instrumentenpassung ließ sich schließlich zeigen, dass die dort genannten passungstheoretischen Ansätze mit nahezu allen (16 von 17) explizierten Passungstheorien Übereinstimmungsmerkmale aufwiesen.

„Charakteristische Bedürfnisse“

Von allen Interviewpartnern wurde die Passungstheorie „Charakteristische Bedürfnisse“ formuliert: Ein Instrument passt umso mehr (weniger), je mehr (weniger) es wesentlichen charakteristischen Bedürfnissen eines Kindes entsprechen kann.

Diese, auf den ersten Blick banal anmutende Passungstheorie soll ein wenig ausführlicher betrachtet werden. Schon der Fokus der Eltern ist interessant: Nicht gefragt wird, ob ein Kind geeignet sei, mit einem bestimmten Instrument umzugehen, wie es üblicherweise der Fall ist, wenn ein Kind ein Instrument erlernen „soll“.7 Stattdessen schauen die Eltern darauf, ob das Instrument bestimmte Merkmale hat, konkreten und für eben dieses Kind charakteristischen Bedürfnissen positiv zu entsprechen. Dabei gelten den Eltern die Bedürfnisse als charakteristisch, die sie als individuelle und essentielle Persönlichkeitsmerkmale ihrer Kinder erleben, also nicht einfache Alltagsbedürfnisse, momentane Wünsche oder ähnliches.

So charakterisiert eine Mutter ihre Tochter beispielsweise als ein Kind, das in allen Lebenssituationen „Sicherheitsabstand“ brauche: Auf Dinge, Situationen und Menschen gehe sie nur sehr vorsichtig zu, könne nie einfach los- und sich auf etwas einlassen, müsse – und dazu benutze sie ihre ausgeprägten intellektuellen Kräfte – möglichst viel Kontrolle über sich und die Situation behalten. Es sei ihr daher ein existenzielles Bedürfnis, Distanz – eben einen „Sicherheitsabstand“ – herstellen und halten zu können. Dies Kind nun hatte zu Beginn des Instrumentalprojektes die Geige gewählt, mit der sie aber von Anfang an nur bedingt und im Laufe der Zeit immer schlechter zurechtgekommen war. Nun – so die Mutter – sei die Geige eben ein Instrument, das all die genannten Bedürfnisse ihrer Tochter konterkariere: Sie ließe Distanz überhaupt nicht zu, sie fordere geradezu, sich mit ihr zu verbinden: Auf der physischen Ebene durch den hohen Grad an unmittelbarem Körperkontakt, im Instrumentalspiel müsse man die Geige geradezu in den eigenen Bewegungsorganismus integrieren, mit ihr „Eins“ werden, auf der klanglichen Ebene erlebe man den Ton ja fast nicht mehr als ein Äußeres, sondern wie „innen drin“. Letztlich sei die Nähe, die die Geige fordere, „so intensiv wie bei einem Menschen“. Interessant ist, dass die Tochter unmittelbar nach Abschluss des Instrumentalprojektes ein Instrument wählte und immer noch – vier Jahre nach Projektende – mit Begeisterung spielt, das sie – wäre es angeboten worden – bereits in der ersten Klasse hätte wählen wollen: das Klavier. Ausführlich beschreibt die Mutter, inwiefern das Klavier im Hinblick auf die genannten Charakteristika der Geige das Gegenteil darstelle und daher den Bedürfnissen ihrer Tochter – Sicherheits-, Kontroll- und Distanzbedürfnis um der Herstellung und Bewahrung emotionaler Sicherheit willen – entgegenkommen kann.

Dies Beispiel lässt den eigentlichen Kern der Passungstheorie „Charakteristische Bedürfnisse“ – gültig auch für alle anderen Fälle – deutlich werden: Immer beschreiben die Eltern Bedürfnisse, die auf zentralen Persönlichkeitscharakteristika ihrer Kinder beruhen. Je positiver die „Antwort“ des Instrumentes auf diese Bedürfnisse sein kann, desto mehr kann es hinsichtlich dessen als passend gelten.

Weitere Passungsaspekte

Kurz soll noch auf einige weitere Passungsaspekte eingegangen werden. Schon die Argumentation der Mutter im obigen Beispiel lässt erkennen, dass Passung auch etwas mit Wirkung zu tun haben kann. So erwarten eigentlich alle Eltern, dass der Umgang mit einem „passenden“ Instrument in der Lage sei, für das Selbsterlebnis des Kindes wie für die Außenwahrnehmung positiv zu wirken: Durch Resonanzerlebnisse im weitesten Sinne, durch Stärkung der Selbstsicherheit, des Selbstwirksamkeitserlebens, letztlich des Selbstbildes.

Resonanzerlebnisse erleben die Eltern insbesondere da, wo sie – auf unterschiedlichen Ebenen – „Analogien“ zwischen Kind und Instrument entdecken (Passungstheorie „Analogie“). Wirksamkeiten aufgrund von Analogien erwarten und konstatieren sie im Falle von Ähnlichkeiten (Passungstheorie „Homöopathie“) beziehungsweise Gegensätzen (Passungstheorie „Allopathie“) zwischen charakteristischen Merkmalen von Kind und Instrument. Resonanzerlebnisse sehen die Eltern aber auch im Hinblick auf Phänomene unterschiedlicher Stadien der kindlichen Entwicklung (Passungstheorie „Korrelation mit Entwicklungsschritten“).

Diese wenigen Beispiele mögen genügen. Sie zeigen, dass die Eltern durchaus differenziert das Verhältnis zwischen Kind und Instrument in den Blick nehmen. Dabei fällt auf, dass in keinem der untersuchten Fälle die Eltern – bei allen handelte es sich um musikalische Laien – das gegebenenfalls sogar überdurchschnittliche Talent ihres Kindes ins Zentrum ihrer instrumentenbezogenen elterlichen Ambitionen stellten. Selbst dort, wo Eltern sichtlich stolz auf die instrumentalen Fähigkeiten ihres Kindes waren, wurde dieser Aspekt immer den oben beschriebenen hintangestellt.

Dieser Aspekt konnte über eine Analyse aller Passungstheorien nach der Grounded-Theory-Methodology (Strauß/Corbin)8 bestätigt werden. Die Analyse führte zu einer bereichsbezogenen datengegründeten Theorie (Grounded Theory) über Entstehung und Strukturmerkmale elterlicher Theorien zur Instrumentenpassung und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Vor dem Hintergrund immer auch wirksamer Kontext-Verhältnisse können spezifische Eigenschaften von Instrumenten in der Begegnung mit charakteristischen Persönlichkeitsmerkmalen eines Kindes in der Art wirken, dass die aus diesen Begegnungen resultierenden Selbsterlebnisse des Kindes eine je individuelle Qualität erhalten. Je positiver die Wirkungen dieser Selbsterlebnisse auf die Entwicklung des Selbstbildes eines Kindes sind, desto mehr kann von einem für dies Kind „passenden“ Instrument gesprochen werden.

Hier nun zeigt sich, inwiefern die Ergebnisse der Untersuchung auch für JeKi- und ähnliche Projekte von Bedeutung sein können: Wenngleich Eltern an Waldorfschulen sicher nicht als repräsentativer Querschnitt der Klientel öffentlicher Grundschulen gelten können, so eint beide doch die Tatsache, dass es sich in den meisten Fällen um musikalische Laien handelt. Für sie ist diese (Erst-)Begegnung mit einem Instrument im familiären Umfeld etwas Neues und sicher nur in seltenen Ausnahmefällen der Beginn einer instrumentalen Karriere ihres Kindes.

Die Eltern erleben das Instrumentalspiel ihrer Kinder nicht als Erfüllung bildungsbürgerlich-traditioneller Elternwünsche und -vorstellungen, auch der heute vielfach genannte Aspekt „kultureller Teilhabe“ steht für sie nicht an erster Stelle. Ihnen wird das Instrument zu einer Art Katalysator, indem es mittels seiner spezifischer Eigenschaften einen „neuen Blick“ auf das eigene Kind initiiert, mit dessen Hilfe sich ein für viele Eltern in seiner Differenziertheit neues Bewusstsein essentieller Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale des eigenen Kindes bilden kann.

Mit derart geschärftem Bewusstsein für das eigene Kind können die Eltern nun auch Aspekte einer Persönlich-keitsstärkung in den Blick nehmen, wie sie gerade durch die Begegnung ihres Kindes mit den spezifischen Merkmalen seines Instrumentes möglich wird – über (Resonanz-)Erlebnisse, die zu positiven Selbsterlebnissen, zu einer Stärkung der Selbstsicherheit, der Selbstwirksamkeit, des Selbstwertes und schließlich des Selbstbildes führen, zu einer im eigentlichen Sinne des Wortes also „wesentlichen“ und mit einiger Sicherheit auch biographisch bedeutsamen Persönlichkeitsstärkung.

Konsequenzen

Will man nach möglichen Konsequenzen für JeKi und ähnlichem fragen, so gerät der Aspekt der Elternarbeit in den Blick: Kann es möglich werden Eltern anzuregen, Kind und Instrument unter vergleichbaren Ge-sichtspunkten anzuschauen? Lassen sich Elternabende einrichten, in denen gerade die Eindrücke und Erlebnisse der Eltern von ihrem Kind im Umgang mit seinem Instrument, aber auch vom Instrument selber thematisiert werden? Wie beschreiben sie den „Charakter“ eines Instrumentes, welches sind in ihren Augen seine spezifischen „Charaktereigenschaften“? Und – „passen“ sie zu ihrem Kind?

Sicher wird man nicht alle Elternhäuser mit solchen Fragen erreichen. Die Voraussetzungen allerdings sind günstig: Gerade als Laien nähern sich Eltern der Frage nach dem Charakter eines Instrumentes und seiner „Passung“ erheblich unvoreingenommener als musikalisch Vorgebildete. Und gerade diese – manchmal naiv anmutende – Unvoreingenommenheit kann über erste Empfindungen schließlich auch den Blick öffnen für Zusammenhänge, wie sie hier dargestellt wurden, und damit auch für all das, was die kindliche Persönlichkeit im bes­ten Sinne reifen lassen und stärken kann. Dazu bedarf es letztlich nicht der Explikation Subjektiver Theorien. Es kann reichen, über diese Fragen ins Gespräch und vielleicht ein wenig ins Nachdenken zu kommen.

Anmerkungen:

1. „JeKi“ soll hier und im Folgenden für alle vergleichbaren Projekte stehen.
2. Vgl. hierzu die Verschiebung der zuerst negativ beurteilten klassischen Musik hin zu einer deutlich höheren Präferenz zum Ende des vierten Schuljahres in einem JeKi-Projekt. In: Busch, Veronika et al.: „Mädchen oder Jungenmusik?“ – JeKi und die Entwicklung musikalischer Vorlieben im Grundschulalter. In: Koordinierungsstelle des BMBF-Forschungsschwerpunkts zu Jedem Kind ein Instrument (Hrsg.). Bielefeld 2013
3. Heinritz, Charlotte: Jedem Kind sein Instrument. Wiesbaden 2012
4. Kalwa, Michael: Subjektive Theorien von Eltern zur Passung von Musikinstrumenten für Kinder. Münster 2013
5. Vgl. Groeben, Norbert et al.: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Tübingen 1988
6. Die männliche Form ist hier der besseren Lesbarkeit halber gewählt. Gemeint sind immer beide Geschlechter.
7. Vgl. dazu die sehr eindrucksvolle Untersuchung von Nohr, die anhand von Instrumentalisten-Biographien u. a. zeigt, was das elterliche „Zudiktieren“ eines Instrumentes für einen jungen Menschen bedeuten kann: Nohr, Karin: Der Musiker und sein Instrument. Tübingen 1997
8. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim 1996

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