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Verspieltes und Konzentriertes

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Zur 75. Jahrestagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt
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Wie begeht man ein Jubiläum? Mit Stolz auf das Erreichte oder kritischer Rückschau? Mit aktueller Bestandsaufnahme und einem Blick in die Zukunft? Mit Festreden, Musik und großem Feuerwerk? Seine 75. Frühjahrstagung feiert das Institut für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt eher bescheiden mit einem Festakt am traditionellen Versammlungsort im Kleinen Saal der Akademie für Tonkunst. Die Veranstaltung hat vier Tage lang „von allem etwas“, nur das Feuerwerk fällt weg. Doch es kommen zwei Elemente hinzu: ein Gefühl von fast familiärer Zusammengehörigkeit, das sich der langen Corona-Pause seit 2019 verdankt, und die spürbare Präsenz (im emphatischen Sinn), mit der sich viele Teilnehmer einbringen.

Das beginnt mit Wolfgang Lessing, Vorstandsmitglied und Professor der Musikhochschule Freiburg, der den Festakt mit einem Solovortrag auf dem Violoncello einleitet. Er spielt zwei Sätze aus Bernd Alois Zimmermanns komplexer Solosonate von 1960, hochkonzentriert und mit präzisem Gestaltungswillen über alle kleinteiligen technischen Finessen hinweg, dabei unbeirrt von dem, was an akustischen Reizen durch die geöffneten Fens­ter dringt: Vogelstimmen, Blätterrauschen, Passanten, die in der Kurve quietschende Straßenbahn und die in den Nachbarräumen übenden Studierenden der Akademie. „Ein Computerprogramm könnte das so nicht,“ dankt Till Knipper, der Vorstandsvorsitzende des Instituts, für den Vortrag. Und Wolfram von Rotberg, der als Stadtrat den verhinderten Oberbürgermeister und Kulturdezernenten Jochen Partsch vertritt, meint, Drinnen und Draußen, beides gehöre dazu.

Wie eine Nuss-Schale birgt die Episode das Tagungsthema in sich. Es lautet: „Aufs Spiel gesetzt. Interpretation im Fokus.“ Der Titel ist hintersinnig-doppeldeutig, und das Grafiker-Duo Andrew und Jeffrey Goldstein hat dazu ein sehenswertes Plakat entworfen, in dem sich Verspieltes und Konzentriertes auf frappierende Weise mischen. Muss man ins Schwarze treffen? Oder gibt es andere, spielerischere Optionen? Der Gastgeber, Akademiedirektor Thomas E. Bauer, seit Ende 2021 im Amt, und als Sänger selbst erfahren in Neuer Musik, beleuchtet gleich noch eine weitere Facette, nämlich die bisweilen prekäre Beziehung zwischen Komponierenden und Interpreten. Er erzählt, wie Krzys­tof Penderecki ihm nach einer Probe von 15 Minuten großzügig gestalterischen Freiraum ließ, während der penible György Kurtág bei wiederholtem Vortrag nach monatelangem Üben die Gesangspartie schließlich ganz streichen wollte.

Die Festreden halten Jörn Peter Hiekel, Professor für Musikwissenschaft in Dresden und langjähriger Vorstandvorsitzender des Instituts, und Helga de la Motte-Haber, emeritierte Professorin für Systematische Musikwissenschaft an der TU Berlin und mit 83 Jahren eine der ältesten Wegbegleiterinnen. Beide Vorträge halten Rückschau, in beiden schwingt viel neuere Musikgeschichte mit. De la Motte lässt mit der Gelassenheit des Alters immer wieder Anekdotisches aufblitzen. Hiekel sucht nach Entwicklungslinien und findet die Formel „Aus der Enge in die Weite“. Er meint damit zum einen den äußeren Weg des Instituts aus dem Wagner’schen „Dunstkreis“ des Gründungsortes Bayreuth in das weltoffene Darmstadt – ein Aspekt, den auch Wolfram Knauer, Leiter des benachbarten Jazz-Instituts in seinem freundschaftlich-launigen Grußwort betont: „Wenn Darmstadt für etwas steht, ist es Diskursbereitschaft.“ Zum anderen zeichnet Hiekel den inneren Weg vom „theologisch orientierten Kontinuitätsdenken“ hin zu Pluralität und Offenheit nach – wobei er immer noch Defizite in der Wahrnehmung komponierender Frauen und der afrikanischen und afroamerikanischen Musik sieht.

Zwischen den Sparten

Anderentags durchziehen kritische und selbstkritische Blicke auf die musikalische Ausbildung im allgemeinen und die Arbeit des Instituts im besonderen sowohl das Podium über „New Multichannel Performers“ als auch das Wegmarken-Gespräch mit langjährigen Mitgliedern und Tagungsbesuchern, das sich schnell ins Publikum öffnet. Dass der Ton stets freundlich, aufgeschlossen und nachdenklich bleibt, dürfte zum einen an der wertschätzenden Gesprächsleitung Wolfgang Lessings liegen, zum anderen aber an dem gewachsenen Bewusstsein von Gemeinsamkeit an der Schnittstelle zwischen Musikwissenschaft, Musikerziehung und künstlerischer Praxis. „Ich bewege mich immer in unterschiedlichen Blasen“, beschreibt Lessing seine Grenzgänger-Situation zwischen Sparten und Institutionen, die sich in Darmstadt zumindest begegnen. Viele der Anwesenden signalisieren, dass ihnen gerade diese Begegnung immer wieder gut tut. Dass sich zwischen akademischer Musikpädagogik und schulischem Musikunterricht eine breite Kluft gebildet hat und die Kompositionspädagogik an den Musikhochschulen vernachlässigt wird, kommt ebenso zur Sprache, wie die Studienbedingungen seit der Bologna-Reform, die es Studierenden erschweren, ihren eigenen Horizont zu erweitern und unterschiedliche Erfahrungen zu einer persönlichen Synthese zu bringen. Interdisziplinäre und experimentelle Unternehmungen stoßen an den Hochschulen immer wieder auf Abwehr der etablierten Fächer. Stefan Prins, musikalischer Co-Leiter des gas­tierenden Nadar-Ensembles, Professor für Komposition und Direktor des „Hybrid Music Lab“ an der Musikhochschule Dresden, spricht vom „Not-in-my-backyard-principle“. Hinderlich wirkt sich auch immer wieder die Fixierung auf künstlerische Perfektion in den Instrumentalfächern aus. „Ein Philosophie-Buch lesen – das wäre schon gut, aber da könnte ich ja Zeit zum Üben verlieren.“ Der Satz beschreibt ein verbreitetes Dilemma.

Dass Musik und Musikerziehung nicht im luftleeren Raum des „L’art pour l’art“ stattfinden, darauf weist in seinem Grußwort schon Stadtrat von Rotberg hin. „Wandlungen, Ausbildung, Performance und Team“ – in den Überschriften der Themenblöcke im Programm finde man ja gesellschaftlich bedeutsame Topoi wieder! Noch deutlicher wird es bei Seth Brodsky, Associate Professor of Music and the Humanities an der Universität Chicago, dessen Vortrag sich innerhalb des Gesamtprogramms wie ein erratischer Block ausmacht. Brodksy spricht in geschliffener, anspielungsreicher Sprache über „The Dream of Interpretation. Composer, Performer, Listener, Object“, und der Berichterstatter muss an dieser Stelle gestehen, dass er den dichten englischen Text, den er freundlich zugesandt bekam, trotz Wörterbuch und mehrmaligen Lesens im Gedankengang immer noch nicht ganz verstanden hat. Das Anliegen des Vortrags habe ich sehr wohl verstanden: Welchen Platz hat die Institution und Idee „Darmstadt“ noch in einer Welt, die unter den Bedingungen des „Zu-Spät-Kapitalismus“ und des „Sofortismus“  in die „Totalkrise“ steuert? (So ließen sich die von der Chicagoer Literaturwissenschaftlerin Anna Kornbluh entlehnten Begriffe „too late capitalism“, „immediacy style“ und „omnicrisis“ übersetzen.) Um es in eigenen Worten zu formulieren: Ist angesichts einer Medienwelt, die jede reflektierte und reflektierende Distanz in einer Art Reiz-Reaktions-Schema auflöst und unter dem Anschein der Authentizität die Entfremdung des Menschen von sich selbst vorantreibt, vielleicht gerade die scheinbar weltfremde Neue Musik ein sinnvoller Ort der Sehnsucht, der Verständigung, der Utopie und der Humanität?

Gegengewicht Praxisbezug

Ein wichtiges Gegenwicht zu intellektuellen Höhenflügen bilden stets praktische Demonstrationen und Berichte aus der Praxis. Davon gibt es eine Menge: Frank Gratowski, Saxophonist, Komponist und musikalischer Leiter eines spannenden Improvisationsabends mit der Internationalen Ensemble Modern Akademie, spricht aufschlussreich über Improvisation, die er lieber „instant composing“ nennt. Wolfgang Lessing und Wolfgang Rüdiger (am Klavier und am Fagott) wagen eine Lecture-Performance über den interpretierenden Zugang zu ausgewählten Stücken. Clemens Thomas vom Freiburger Ensemble Recherche berichtet von neuen Ansätzen im Umgang mit historisch gewordener Neuer Musik. Michael Kunkel von der Musikhochschule Basel demonstriert aktuelle Wiederbegegnungen mit der Fluxus-Begegnung. Die Pianistin Rei Nakamura zeigt, wie sie Klaviermusik mit begleitender Elektronik, Film oder Video einstudiert. Matthias Krebs von der Forschungsstelle Appmusik an der UdK Berlin plädiert für digitales Musizieren „mit Leib und Seele“ in pädagogischen Kontexten.

Michael Acker, Tonmeister beim SWR, berichtet sehr anschaulich über die Arbeit des SWR-Experimentalstudios in Freiburg. Dabei hat er nicht nur die Technik im Blick. Am spannendsten sei es, wenn Komponisten mit dem Computer wenig oder gar nicht vertraut seien; dann entstehe am ehesten eine echte musikalische Idee, die nicht durch ein Computerprogramm vorherbestimmt sei. Der Vision vom „Kunstwerk im Zeitalter seiner Selbstgenerierung“ stellt er das Bekenntnis zu einer „Musik von Menschen für Menschen“ gegenüber, und fügt hinzu: „Ich fürchte, dass wir zu sehr in die Abhängigkeit von Algorithmen geraten.“

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