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Klassisch, französisch, glasklar: Beethoven-Interpret Jean-Efflam Bavouzet. Foto: Henry Fair
Klassisch, französisch, glasklar: Beethoven-Interpret Jean-Efflam Bavouzet. Foto: Henry Fair
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Viele Hoch-Zeiten und ein Todesfall

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Aktuelle Gesamteinspielungen der 32 Klaviersonaten von Beethoven · Eine Bilanz von Thomas Tietze
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Vor fünf Jahren gab es an gleicher Stelle einen Überblick über die seinerzeit im Erscheinen begriffenen, mittlerweile fertig gestellten Gesamteinspielungen der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens unter anderem von András Schiff, Paul Lewis, Michael Korstick, Gerhard Oppitz, Ronald Brautigam und Maria Grinberg (nmz 5-2007).

Die Ergebnisse waren erwartungsgemäß höchst unterschiedlich: Während etwa die äußerst penible Texttreue von András Schiff sich letztlich doch zulasten des Zugriffs und der Spontaneität auswirkte, fehlte bei dem ansonsten sehr hörenswerten Zyklus von Michael Korstick in nicht wenigen Sonaten eine gewisse Ausgewogenheit im Verhältnis der einzelnen Sätze, zu extrem waren manchmal die Tempi. Rückblickend dürfte vielleicht doch die Gesamtschau von Paul Lewis in ihrer, seinem Lehrer Brendel nicht unähnlichen, klassischen Balance die überzeugendste gewesen sein. Fest steht aber, dass das Interesse zumindest der Pianisten an Gesamtaufnahmen der Beethoven-Sonaten ungebrochen ist. So wurden in der letzten Zeit Aufnahmen der Pianisten François-Frédéric Guy, Rudolf Buchbinder, Abdel Rahman El Bacha, Mari Kodama, ganz aktuell Christian Leotta und – eher als Kuriosum – der Koreanerin HJ Lim fertiggestellt. Immer noch im Entstehungsprozess begriffen ist der Zyklus der Kanadierin Angela Hewitt, Jean-Efflam Bavouzet sowie Jonathan Biss haben gerade begonnen. Erwähnt werden muss auch die im Grunde  seit 1976 laufende Gesamteinspielung von Maurizio Pollini, der gerade die vorletzte – allerdings etwas enttäuschende – CD vorgelegt hat.

Seriöses und kraftvolles Klavierspiel bietet der Franzose François Frédéric Guy (Zig-Zag Territoires/Note 1), allerdings lässt sich bei diesen Live-Mitschnitten nicht überhören, dass hier kein großer Beethoven-Architekt am Werke ist. Nur selten fügen sich nach Anhören einer Sonate die Sätze zu einem großen Ganzen zusammen, zu vieles bleibt musikalisch im Ungefähren. Generell jedoch scheinen ihm die langsamen Sätze besonders zu liegen, wenngleich auch diese sich nicht zwingend in den Sonatenverlauf einordnen. Die späten Sonaten (vor allem Op. 110) sind rundum gelungen, hier findet Guy dann auch einen ganz anderen Zugang zur Architektur der Werke.

Völlig anders erwartungsgemäß der Ansatz von Rudolf Buchbinder, der nun seine zweite Gesamteinspielung, diesmal ebenfalls als Live-Mitschnitt, vorgelegt hat (RCA Red Seal/Sony). War der erste Zyklus aus den frühen Achtzigern noch eher als Jugendwerk einzustufen, haben wir es nun mit einer kapitalen Gesamtschau auf die großen Zweiunddreißig zu tun. Man merkt jedem Ton die jahrzehntelange Beschäftigung mit Beethoven an. Hier findet jedes Detail Beachtung, ohne dass die Interpretation in Akademismus verfällt. Mag manchmal, etwa in den langsamen Sätzen gerade der frühen Sonaten, eine letzte Versenkung fehlen, stört das nicht, denn alles ordnet sich dem klassischen Sonatenverlauf unter und erhält daher seine eigene Wirkungskraft. Und auch in Momenten schärfster Attacke (Op. 57) bewahrt Buchbinder die pianistische Contenance. So soll es ja sein, Beethoven ist hier kein verkappter Romantiker (wie bei Guy), sondern bleibt in der Wiener Klassik verwurzelt.

Ob die neue Gesamtaufnahme von Abdel Rahman El Bacha (Mirare/Harmonia Mundi) tatsächlich notwendig war, scheint mir zweifelhaft. Bereits vor rund zwanzig Jahren hatte der in der Schweiz lebende Libanese einen nicht uninteressanten Zyklus vorgelegt, der sich aber nur wenig von der neuen Gesamtschau unterscheidet. Alles scheint hier etwas zurückgenommen, die Tempi in den schnellen Sätzen, der Impetus, die Emotion, dazu kommt ein scharf umrissener, sehr pointierter Anschlag. Das alles mag ja funktionieren, auch der alte Kempff hat das so gemacht. Aber mit welchem Ergebnis! Bei El Bacha wirkt manches dann doch zu akademisch.

Genuine  Beethovenspieler scheinen dagegen Christian Leotta (Atma Classique/Musikwelt) und Jonathan Biss zu sein. So unterschiedlich der musikalische Ansatz der beiden noch jungen Pianisten ist, gemeinsam ist ihnen ein intuitives Verständnis der Beethoven’schen Strukturen und der große Bogen. Auch Leotta bevorzugt, wie El Bacha, meist zurückgenommene Tempi – der zweite Satz der kurzen Sonate Op. 54 war so langsam wohl noch nie zu hören –, aber man spürt, warum der Pianist so spielt. Dass er auch anders kann, beweist der Italiener etwa im Finalsatz der Sonate Opus 2 Nr. 3 oder im Kopfsatz der Sonate Op. 22, die er mit enormem Vorwärtsdrang und feinst ausziseliert spielt. Schade, dass Vol. 1 und 5 unter einer zu trockenen Raumakustik leiden.

Pianistisch noch verfeinerter geht der Amerikaner Jonathan Biss ans Werk (Onyx/Note 1). Man höre nur die stählerne Brillanz des extrem schwierigen zweiten Satzes der Fis-Dur-Sonate Op. 78. Hörenswert ist es, wie er den Kopfsatz der Waldsteinsonate Op. 53 mit ungeheurem Drive und gleichzeitiger Übersicht über den formalen Verlauf angeht. So ist das selten zu hören. Manchmal gehen ihm die interpretatorischen Gäule vielleicht etwas durch (beispielsweise bei den gebrochenen Dreiklängen zu Beginn der Sonate Op. 31 Nr. 1, die er eher arpeggiert als ausspielt), aber er vermeidet jeglichen Manierismus. Auch wenn bislang erst drei Folgen des Gesamtzyklus vorliegen, kann man jetzt schon sagen, dass hier ein großer Beethovenspieler heranwächst. Auf die weiteren Folgen kann man nur gespannt sein.

Erst eine Lieferung mit den frühen Sonaten bis Op. 14 hat der französische, in Detmold lehrende Pianist Jean-Efflam Bavouzet vorgelegt. Alles was er anfasst, scheint zu Gold zu werden (Haydn, Bartók, Debussy, Ravel etc.). Das ist ihm auch hier gelungen. Zu hören ist ein durch und durch französischer, glasklarer und klassischer Beethoven, die langsamen Sätze werden eher zügig absolviert, unter gänzlichem Verzicht auf die – typisch deutsche? – Grübelei. Auch wenn das nicht jedem gefallen dürfte, überzeugend ist es als Konzept trotzdem. Eine bedeutende Aufnahme.

Seltsam unbeteiligt bleibt man übrigens bei den Aufnahmen von Angela Hewitt – bislang sind vier CDs erschienen (Hyperion/Note 1). Alles ist richtig, alles klingt gut, trotzdem wirkt das Ganze etwas domestiziert. Deutlich lebendiger und kraftvoller spielt da ihre Kollegin Mari Kodama (Pentatone Classics/Naxos).
Ob sich der große Maurizio Pollini mit der Veröffentlichung der vorletzten Folge seiner Gesamtaufnahme (Deutsche Grammophon/Universal) wirklich einen Gefallen getan hat, muss bezweifelt werden. Zwar hört man die große Gestaltungskraft des Meisters – etwa im Kopfsatz der Sonate Op. 7 – noch heraus, (zu) vieles aber klingt eher grob und scheint stellenweise pianistisch nicht mehr ganz auf der Höhe zu sein. Schade.

Ach ja, da war doch noch etwas: Wer denkt, zu Beethoven sei bereits alles gesagt, der greife zur Gesamteinspielung der noch sehr jungen Koreanerin HJ Lim (Warner Classics). Sie schafft es tatsächlich, den großen langsamen Satz der Hammerklaviersonate in weniger als 13 Minuten als gemächliches Allegretto commodo über die Bühne zu bringen (Christoph Eschenbach etwa benötigte 26 Minuten für diesen Riesensatz), dazu arpeggiert sie gerne harfenartig die Akkorde, als würde sie das „Gebet einer Jungfrau“ zum Bes­ten geben. Ansonsten bringt sie das Kunststück zuwege, in fast allen langsamen Sätzen jeden Takt in einem anderen Metrum zu spielen – in den übrigen Sätzen nur jeden zweiten Takt –, kann aber dafür die Hammerklavierfuge und das Finale der Appassionata sinn- und fehlerfrei runterrasen. Wie, so fragt man sich, kann eine solche Aufnahme freigegeben werden? 

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